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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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ging ich im Dom vorn ins Querschiff in die Nähe des Südeingangs, denn dort würde der Sarg hinausgetragen werden. Es war leer im Südquerhaus. Nur ab und zu stand ein Sicherheitsbeamter hinter einer Säule. Wenn ich vorbeikam, zeigte ich meine schwarze Sicherheitsnadel. Ein verständnisvoller Blick. Man war unter seinesgleichen.
    Das Pontifikalrequiem dauerte etwas länger als eine Stunde. Ich habe davon nicht viel mitbekommen. Als dann der Sarg hinausgetragen wurde, folgte ihm wieder die Familie, dahinter Bundespräsident Heinrich Lübke, eingerahmt von Charles de Gaulle und Lyndon B. Johnson. Und kurz dahinter reihte ich mich ein. Die Journalisten, die ich im Bus nach Köln gebracht hatte, vergaß ich. Unter den dreihunderttausend Trauergästen würde ich sie sowieso nicht wiederfinden. Ich fuhr dann zurück nach Bonn im Dienstwagen eines Ministerialdirektors des Auswärtigen Amtes, den ich kannte. Wir fuhren schnell nach Bonn, denn die Autobahn war gesperrt und nur für offizielle Wagen freigegeben.

    Als Adenauer starb, war Kurt Georg Kiesinger Bundeskanzler, der Mann, der von Beate Klarsfeld geohrfeigt wurde, worüber wir uns alle freuten, ohne es für eine systemverändernde revolutionäre Tat zu halten. Mein Vater kannte ihn ganz gut, weil er während des Krieges für die Rundfunkabteilung des Auswärtigen Amtes in Shanghai und in Tokio, wo ich dann geboren wurde, gearbeitet hatte. Chef dieser Abteilung war Kiesinger gewesen. Wie Kiesinger war mein Vater Mitglied der NSDAP. Ich hatte stets den Eindruck, beide waren aus opportunistischen Karrieregründen in die Partei eingetreten.
    Als die SPD sich mit der CDU zur großen Koalition einigte und Kiesinger damit zum Kanzler machte, war ich abends vor die Baracke gezogen, wie man die Bundeszentrale der SPD nannte. Dort demonstrierten schon rund fünf Dutzend Jusos. Ich hatte ein Plakat dabei, das an einem Holzstock befestigt war. Darauf stand: »Schluss mit dem Unrecht«.
    Bei einer großen Demonstration von Vertriebenen waren Hunderte solcher Plakate verteilt worden. Ein müder Vertriebener hatte seines wohl in einen Busch im Hofgarten von Bonn geworfen. Der Hofgarten, wo die meisten Großdemonstrationen in Bonn stattfanden, liegt vor der Universität, und ich wohnte nur einige Hundert Meter entfernt. Ich fand das Plakat und dachte mir, der Satz »Schluss mit dem Unrecht« passt zu jeder Demo. Und so hatte ich es bisher gehalten. An diesem Abend aber klebte ich über das Wort »Unrecht« ein Blatt Papier und schrieb »Scheiß« drauf: »Schluss mit dem Scheiß!« So ausgestattet stand ich also vor der SPD. Alle demonstrierenden Jusos wurden in die Baracke zu einer Diskussion eingeladen, mussten am Eingang aber ihr Parteibuch vorzeigen. Damit konnte ich nicht dienen. Deshalb blieb ich allein draußen. Dann warf ich das mir inzwischen lästig gewordene Plakat in einen Busch vor dem Haus und ging in die Kneipe.
    Als ich ein Jahr später mit einem ausländischen Besucher, den ich für Inter Nationes begleitete, bei einem Referenten der SPD vorsprach, hing das Plakat an seiner Wand. Als ich ihn harmlos fragte, wo er es herhätte, sagte der Genosse: »Das hat jemand bei einer Protestdemo gegen die Große Koalition vor der Baracke in einen Busch geworfen.«
    Willy Brandt wurde dann unser aller Kanzler, wenn wir auch die SPD immer noch abfällig als Establishment missachteten. Willy war zum Anfassen. Wir konnten ihn auch mal mit der SPD-Wählerinitiative in Friedel Drautzburgs Wein- und Teehaus in der Lennéstraße treffen und heftig diskutieren. Mit Friedel Drautzburg hatte ich zusammen Jura studiert. Er hatte auch nach dem ersten Staatsexamen aufgehört, war der Fahrer des VW-Busses der SPD-Wählerinitiative geworden und hatte Günter Grass durch ganz Deutschland kutschiert. Dann wurde er Kneipier. Eine Zeit lang war ich an seiner Weinwirtschaft »Elsässer Weinstuben« in der Breitestraße beteiligt und spielte dort den »Dienstagswirt«. Willy Brandt kam dort auch schon einmal hin, um seinen Geburtstag zu feiern. Heute betreibt Friedel die StÄV in Berlin.
    Mit Willy Brandt konnten wir über alles diskutieren, über den Radikalenerlass und die Versuche der Parteien, Einfluss auf die Sender zu nehmen, ebenso wie über das Anti-Terrorgesetz mit seinem § 131 StGB, der die Darstellung von Gewalt unter Strafe stellen sollte. Aber seine Antwort auf unsere Frage, was wir ändern könnten, lautete immer wieder: »Ich fürchte, daran wird sich nichts ändern.«
    Weil ein

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