Neugier und Übermut (German Edition)
für die Dreharbeiten und reichte beim Buchhalter des Studios meine Reisekostenabrechnung ein. Jetzt hatte ich auf Kosten des Studios schon mehr als vierhundert Dollar für den Flug und das Hotel ausgegeben.
Als mich der Buchhalter nach der Produktionsnummer fragte, sagte ich ihm: »Ach, beim WDR finden alle das Projekt großartig. Die haben wahrscheinlich vergessen, die Produktionsnummer zu schicken.«
Der Buchhalter tat, was ein Buchhalter tun muss. Er telefonierte verzweifelt mit dem WDR, denn ich hatte Geld ausgegeben, und das Problem musste gelöst werden. Wir brauchten also dringend eine Produktionsnummer. Das Problem landete schließlich in der Redaktion. Da erbarmte sich Theo M. Loch, der Fernseh-Chefredakteur, und sagte zu, die Produktion aus seinem Topf für Sonderprojekte zu finanzieren.
Das habe ich ihm hoch angerechnet.
Denn es war die Zeit des »deutschen Herbst«, Buback war erschossen, Ponto ermordet worden, Schleyer war Anfang September gekidnappt und später ermordet worden, die »Landshut« wurde gekapert und nach Mogadischu entführt. Es war die Hochzeit der RAF-Gewalt. Und wieder wurde Marcuse in der deutschen Presse, sogar vom SPIEGEL , fälschlicherweise beschuldigt, Vater des Terrors zu sein. Im SPIEGEL stand im Herbst 1977: »Direkte Beziehung zwischen Mord und Marcuse? Scharf wie nie stellte sich die Frage, ob es eine direkte Beziehung gibt zwischen Mord und Marcuse. Was akademisch vorgetragen worden war und Platz gelassen hatte für Deutungen und Dehnungen, diente nun der konfusen Rechtfertigung tödlicher Gewalt, die sich als revolutionär ausgab.«
Es fehlte jedoch jeder Beleg für diese Behauptung.
Loch hatte den Posten des Chefredakteurs beim WDR-Fernsehen zwar als Mitglied der CDU bekommen, doch er war liberal. Deshalb tat es mir fast leid, als er von seinem Amt zurücktreten musste, weil plötzlich herauskam, dass er sich als Achtzehnjähriger 1940 freiwillig zur Waffen-SS-Einheit »Leibstandarte Hitler« gemeldet und es bis zum Obersturmbannführer gebracht hatte. Nach dem Krieg hatte Loch seinen Lebenslauf geschönt und als Dienstgrad Oberleutnant angegeben. Das flog 1983 auf, als der Gründer der rechtsextremen Partei »Die Republikaner«, Franz Schönhuber, lange Zeit stellvertretender Fernseh-Chefredakteur beim Bayrischen Rundfunk, in einem Buch bekannte, bei der »Leibstandarte Hitler« gedient zu haben, und den Hinweis gab, dass dort auch Theo M. Loch gewesen sei.
Mein Motto hatte sich bewährt: Wo ein Wille, da ist tatsächlich auch ein Weg.
Marcuse hatte zugestimmt.
Die Produktionsnummer war da.
Die Dreharbeiten begannen Ende Oktober an der Wesleyan University in Middletown, Connecticut. Ich fühlte mich wie zu Hause. Gegenüber der Bibliothek habe ich in Clark Hall gewohnt, und im Public Affairs Center lag das Zeitungsarchiv, wo ich mir ein Zubrot verdiente und deutsche und französische Tageszeitungen auswertete. Als ich in Wesleyan studierte, arbeitete Hannah Arendt im »Center for Advanced Studies« an ihrem Buch über den Eichmann-Prozess und trug an einem Abend ihre Thesen vor.
Noch immer füllten sich beim Erscheinen Marcuses die Säle. Und da ihm der Ruf vorauseilte, Revolutionär zu sein, fragten die Studenten in Wesleyan, ob Terror ein Teil der Revolution sei.
Er antwortete: »In der deutschen Wochenzeitschrift DIE ZEIT habe ich darauf hingewiesen, dass Terror überhaupt nichts gemein hat mit dem Kampf um Sozialismus, im Gegenteil, Terror belastet diesen Kampf. Er ist blanker Mord. Und Mord ist immer noch keine politische Waffe. Um die Frage zu beantworten: Ich habe Terror von Anfang an abgelehnt, und ich werde ihn weiter ablehnen.«
Die Studenten applaudierten.
Gleichzeitig aber wollten sie von dem »Kämpfer« hören, wie er den politischen Zustand des Landes im Augenblick beurteile, ob er in naher Zukunft eine neue, bessere, menschlichere Gesellschaft sich entwickeln sähe und ob denn seine Vorstellung einer menschlicheren Welt zu verwirklichen sei.
Nun, sagte Marcuse, der verschämt zugab, er habe für Präsident Carter gestimmt, man solle an Wahlen teilnehmen, zumindest, wenn es um den Stadt- oder Gemeinderat gehe, wo es also noch wirklich eine demokratische Auswahl gebe. Ansonsten wisse man ja, um Abgeordneter zu werden, brauche man ein Vermögen von einigen Millionen.
Von heute aus gesehen, klingt in seinen Worten nichts mehr revolutionär.
Marcuse schlug den Studenten auch noch vor, sie sollten in Bürgerinitiativen mitarbeiten, zum
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