Neugier und Übermut (German Edition)
Beispiel bei den Umweltschützern. Denn wenn sie mit ihren Forderungen durchkämen, würden sie zu einer Gefahr werden für den Kapitalismus und könnten neue Werte einführen. Auch Reformen, so versprach der Kämpfer für eine andere Gesellschaft, könnten radikal verändern.
Anfang Dezember trafen wir uns in La Jolla wieder. Das Kamerateam hatte uns eine luxuriöse Unterkunft in einem fast leer stehenden Ferienresort besorgt. Marcuse zeigte uns den Bungalow, den er seit Jahrzehnten bewohnte, damit der Kameramann entscheiden könnte, in welchen Räumen wir drehen sollten. Als der Hausherr uns in seinen kleinen Garten führte, fragte ich ihn, wo denn sein Schwimmbad sei. Ach, sagte er, den Pool habe es nie gegeben. Aber irgendwann habe ihn eine deutsche Zeitung wohl als marxistischen Philosophen fertigmachen wollen und geschrieben, er lebe wie ein Kapitalist im warmen Südkalifornien und habe sogar einen Pool. Und das würden nun alle abschreiben, weil die Recherche vieler Journalisten wohl nicht über das Archiv hinausgehe.
Marcuse, Ende des 19. Jahrhunderts geboren, war inzwischen 79 Jahre alt. 1916 schloss er die Schule mit dem Notabitur ab und wurde dann zum kaiserlichen Heer einberufen. Als wir in seinem Wohnzimmer zusammensaßen, fragte ich ihn zuerst, wie er denn die Entwicklung zum Ersten Weltkrieg wahrgenommen habe.
»Ich erinnere mich ziemlich deutlich«, erzählte Marcuse. »1918 im November, als die Revolution ausbrach, bin ich in Berlin-Reineckendorf in den Soldatenrat gewählt worden. Und ich sehe mich noch wie heute in Berlin am Alexanderplatz mit einem Gewehr auf der Straße stehen und auf – ich weiß nicht, was das auf Deutsch ist – ›snipers‹ (Heckenschützen), die angeblich auf den Dächern standen, zielen. Ich bin überzeugt davon, dass ich nie jemanden getroffen habe.«
»Wieso sind Sie in den Soldatenrat gewählt worden?«
»Offenbar muss ich schon damals irgendwie sozialistische Tendenzen gehabt haben. Ich hatte schon etwas Marx gelesen, war einer der Radikalen dieser Zeit. Dann kam die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Danach bin ich – ich war damals Mitglied der SPD – aus der Partei ausgetreten … Ich erinnere mich nämlich noch heute, dass kurz vor der Ermordung von Karl und Rosa das sozialdemokratische Parteiblatt Vorwärts ein Gedicht gebracht hat von Herrn Künstler, in dem der Refrain war – ich glaube: vielhundert Tote in einer Reih’ – Proletarier Karl, Rosa, Radek und Kumpanei – es ist keiner dabei. Das ist ziemlich eindeutig.«
Schon 1933, kurz nach der Machtergreifung durch die Nazis, verließ Marcuse Deutschland, landete in New York und arbeitete mit Horkheimer und Adorno zusammen. Aber anders als Horkheimer und Adorno kehrte er nicht nach Deutschland zurück. Ich fragte ihn, weshalb er in den USA geblieben sei.
»Das Nazi-Regime war für mich ein solcher Einschnitt in dem, was Deutschland mal für mich war – ich konnte das einfach nicht verdauen.«
Als ich ihn auf Angela Davis ansprach, die bei ihm ihr Studium begonnen hatte und nach ihrem Aufenthalt in Frankfurt Marcuse an die Universität von La Jolla gefolgt war, um bei ihm den Abschluss zu machen, verzog der Philosoph ein wenig die Miene.
»Sie kam als Studentin und war während dieser Zeit relativ unpolitisch. Ging dann für ein Jahr nach Deutschland, nach Frankfurt, um bei Adorno zu studieren, und als sie zurückkam, war sie voll politisiert. Eigentlich hat das in Deutschland stattgefunden. Wie viel ich dazu beigetragen habe, weiß ich nicht. Sie selbst sagt: ziemlich viel. Aber man soll nicht dieses Jahr vergessen, das sie in Frankfurt verbracht hat.«
»Haben Sie noch Kontakt mit Angela Davis?«
»Der letzte Kontakt war vor einigen Jahren. Und damals habe ich ihr vorgeworfen, dass sie Weltreisen macht, um für die Befreiung politischer Gefangener zu arbeiten, aber auf derselben Reise in die Tschechoslowakei ging, ohne ein Wort über die politischen Gefangenen dort zu sagen. So politisch sind wir nicht mehr verbunden.«
»Was hat sie geantwortet auf den Vorwurf?«
»Sie war verlegen und hat dann geantwortet, eigentlich wollte sie gar nicht nach Prag fahren. Aber sie habe das Flugzeug in Berlin verpasst und sei dann doch hingegangen. Ich habe das nicht ernst genommen. Es tut mir heute noch leid, sie ist ein wundervoller Mensch und ungeheuer intelligent. Sie war sicher eine meiner besten Studentinnen. Ich weiß nicht, wie es gekommen ist. Ich möchte das auch nicht
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