Neugier und Übermut (German Edition)
vertiefen.«
Zu Hause in seiner Garage standen Bücher in einem großen Regal, und an der Tür, die zum Kücheneingang führte, hing eine merkwürdige Figur. Ein Sack in der Form eines lieblichen Löwen.
»Was ist denn das Merkwürdiges, das Sie da haben«, fragte ich.
»Das ist eine Art Hausdämon. Der ist dazu benutzt worden, die Fluch- und Schimpf- und Drohbriefe, die ich hier bekommen habe, aufzubewahren. Das ist aber nur ein ganz kleiner Teil. Ich habe noch Hunderte im Büro.«
Ricky zog einen Brief heraus und las ihn vor: »Marcuse und Freunde – ihr Hurensöhne. Juden!«
In einem anderen Brief stand der Satz: »Es ist unglaublich, dass wir 5000 Meilen fahren mussten, um Deutschland zu bekämpfen und Stinktiere wie Sie zu retten.«
Sehr schön fand seine Frau einen Brief, den die Post zustellte, weil sie offenbar wusste, wer gemeint war. Auf dem Umschlag stand: »Mr. Killer of American youth, Herbert Markus – marxist philosopher, idiot – La Jolla, California Air Mail.«
Marcuse zog einen weiteren Brief hervor mit der Bemerkung: »Man kann sich nicht vorstellen, dass so etwas wahr ist.« Da stand: »Unsere einzige Tochter ging an die University of California, wo dieser Professor Marcuse Studenten lehrt, sexuell und moralisch zu rebellieren. Zu allem, was wir ihr gesagt hatten, sagte er das Gegenteil. Jetzt ist sie schwanger und nicht verheiratet, und unser Herz ist gebrochen.«
Marcuse hatte aufgrund seines Alters darum gebeten, dass wir nicht mehr als drei Stunden am Tag drehten. Wir teilten die inhaltlichen Interviews auf und suchten die dazu passende Umgebung. Seine Biographie besprachen wir im Wohnzimmer. Und für das Thema »Freiheit« gingen wir in den Zoo von San Diego, für den er eine Jahreskarte besaß. Er ging gleich zum Gehege der Kamele und sprach ein Höckertier an: »How are you, little Ungeheuer? You look tired. Go to sleep.«
Ich fragte ihn, was ihm Kamele bedeuteten, denn in seinem Arbeitszimmer stand eine ganze Ansammlung von Stoffkamelen.
»Das Kamel«, antwortete er, »das ist ein Geheimnis.«
»Das wollen Sie nicht verraten?«
»Ich werde eine Ausnahme machen und das Geheimnis verraten. Meine Frau, die Ricky, ist eines Morgens aufgewacht und hat festgestellt, dass ihr ›spiritual animal‹, ihr geistiges Tier, ein Kamel ist. Dass sie eigentlich ein Kamel ist. Das ist im Englischen anders als im Deutschen. Wenn man im Deutschen von einem Kamel spricht, dann heißt das: Idiot oder dumm oder was auch immer. Im Englischen ist es viel eher zärtlich, ein Kosewort. Deswegen der Überschuss an Kamelen bei mir im Haus.«
Für unsere Fragen zur Kritik der Konsumwelt gingen wir in ein riesiges Einkaufszentrum, das mitten auf die grüne Wiese gebaut worden war. Es belegte aufs Schönste Marcuses Thesen von der Konsumkritik. Und die halten auch noch heute stand.
Die Revolution als Theorie besprachen wir vor der Bücherwand in seinem Büro an der Universität. Die »Great Society« oder auch die »Neue Gesellschaft« hing von der Sensibilisierung der Menschen ab, also fanden wir einen wilden Ententeich mit einem herrlich verwachsenen Baum, um darüber zu sprechen. Und da auch der »neue Mensch« noch nicht inhaltlich festzumachen war, drehten wir diesen Teil des Gesprächs in einer einzigen, zehn Minuten langen Einstellung am Strand des Pazifischen Ozeans. Viel länger als zehn Minuten durfte dieser Gesprächsteil auch nicht dauern, denn eine Filmrolle war nur zwölf Minuten lang. Als wir diese Szene abgedreht hatten, sagte der Toningenieur: »Das müssen wir noch einmal machen.«
Also machten wir es noch einmal. Und Marcuse war genauso präzise wie zuvor.
Die letzte Frage unserer Dreharbeiten lautete: »Haben Sie eigentlich manchmal an Ihren Voraussagen, an Ihrer Theorie gezweifelt?«
»Selbstverständlich! Jeder Theoretiker sollte das tun. Die Verzweiflung kommt daher, dass ich sehe, wie ungeheuer verschieden die Machtverhältnisse sind zwischen denen, die das Neue wollen, und denen, die das Alte verteidigen. Aber diese Verzweiflung oder sagen wir mal: Skepsis – obgleich es viel mehr ist als Skepsis – darf unter keinen Umständen als Entschuldigung dienen, den Kampf aufzugeben.«
Als wir abgedreht hatten, lud ich Herbert Marcuse und seine Frau zu einem Abschiedsessen ein. Marcuse erwähnte wieder, er kenne einen guten Chinesen. Seine Frau kannte aber einen noch besseren Mexikaner. Zu dem sind wir dann auch gegangen.
Einen kleinen Nachtrag will ich anfügen. Als ich den
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