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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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Film fertig geschnitten hatte, fuhr ich noch vor der Sprachaufnahme, es hätte also noch die Chance bestanden, etwas zu korrigieren, zu Jürgen Habermas nach Starnberg. In Deutschland kennt wohl niemand das Werk von Marcuse besser als er. Ich fragte Habermas, ob es irgendwo bei Marcuse eine Stelle gebe, wo er den Terror verteidige. Nein, sagte mir Habermas nach einem Moment des Überlegens, solch eine Textstelle gebe es seiner Kenntnis nach nicht.

    Ein Jahr nach der Ausstrahlung des Films ist Herbert Marcuse während eines Besuchs bei seinem Freund Jürgen Habermas in Starnberg gestorben.
    Zu später Stunde strahlte die ARD meinen Film als Nachruf noch einmal aus.
    Wo ein Wille ist, das habe ich durch diese Begegnung gelernt, da findet sich auch ein Weg.

Absurditäten

Die falsche Augenfarbe im Pass
von Eugène Ionesco
    Bei unserer letzten Begegnung habe ich ihn ins Bett getragen. Er hatte unerträgliche Schmerzen. Wir hatten einen kleinen Ausflug durch Paris gemacht, im Auto, weil er kaum noch laufen konnte. Dann haben wir, wie immer nach unseren kleinen Touren durch Paris, immer in die Gegenden seiner Jugend, die er noch einmal sehen wollte, im Select zu Abend gegessen. Schließlich stand Eugène Ionesco vor seiner Wohnungstür und stöhnte vor Gliederschmerzen. Er war inzwischen klein und alt. Ich hob ihn auf beide Arme, er wog nicht viel, trug ihn in sein Schlafzimmer und legte ihn auf sein Bett.
    So habe ich ihn zum letzten Mal gesehen.

    Die Familie Ionesco wohnte nur zwei Häuser neben La Coupole, gegenüber dem Bistro Select, in der sechsten Etage. Der Vater des absurden Theaters Eugène mit Frau Rodica und Tochter Marie-France. Auch Eugène hatte sein Fässchen, und vielleicht auch ein bisschen von dem Rodicas (wie er mir zublinzelnd gestand), früher in La Coupole geleert. Doch dort war es ihm nach dem Besitzerwechsel zu laut geworden.
    Besuchte ich Eugène und Rodica, dann öffnete sich, wie bei allen Pariser Häusern, die vor der Automobilzeit gebaut worden waren, in der rechten Hälfte des riesigen grünen Holztors eine Pforte, die auf den Druck auf ein kleines messingfarbenes Klingelknöpfchen reagierte. Man musste die Füße heben, um über die hohe Schwelle zu treten, und wären wir in China, dann würden davon die bösen Geister abgehalten. Der erste böse Geist sitzt aber immer schon drinnen; rechts hinter dem Vorhang schaut die Concierge heraus, um den Eindringling zu kontrollieren, aber sie rührt sich nicht. Links führt die Treppe zu den Wohnungen, doch die dünne Glastür ist verriegelt, sodass man klingeln muss. Aber auch hier pflegt man die Diskretion, weshalb es keine Namensschilder gibt. Wer kommt, muss den Code kennen, mit dem die Tür sich öffnet. Diesen Code füttert man ein in jenes kleine Kästchen neben der Tür, in der Höhe der Klingel, wo anstelle von Namen Zahlen und Buchstaben wie auf einem Taschenrechner im Viereck angeordnet sind.
    Die Ionescos hatten zwei Codes: einen für Freunde, den erhielt ich nach einer gewissen Zeit, einen anderen für den Rest der Welt. So können sie, wenn es schellt, entscheiden, ob sie öffnen wollen oder auch nicht. Auf dem Läufer tritt man zwei Marmorstufen hoch und hat dann die Wahl, ob man sportlich sein und die sechs Etagen zu Fuß erklimmen will oder ob man seine Klaustrophobie überwindet und sich durch die beiden schmalen Türklappen in den engen Käfig drängt und nach oben zuckelt – wobei dieses Teufelsgefährt nicht selten steckenblieb oder eine Handbreit unter dem Ausstieg hielt.
    Solang Z noch lebte, löste die Klingel im Inneren der Wohnung lautes Gekläffe aus, doch Z, der Spaniel, starb Ende der achtziger Jahre. Z hieß er ganz einfach, weil Z der letzte Buchstabe des Alphabets ist. Und – französisch ausgesprochen – klingt es gut: »Sääähht«.
    Rodica öffnete meist die Tür, und sie lachte jedes Mal, wenn ich kam und mich für die »Bise« sehr tief bückte, denn sie, eine feingliedrige und auch noch schöne Frau, war so klein, dass sie mir gerade bis zur Hüfte reichte.
    Reiner Zufall hat mich zu Ionesco geführt. In Paris schwärmte ich der Autorin und Übersetzerin Verena von der Heyden- Rynsch, einer Nachbarin im siebten Arrondissement, vor, wie erholsam ein Wochenende auf dem Lande sei. In New York hätten wir durch Zufall in Connecticut ein schönes Haus mitten im Wald günstig mieten können, das nur anderthalb Stunden Fahrt von Manhattan entfernt war. Jedes Mal überkam mich sofort nach meiner Ankunft am

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