Neugier und Übermut (German Edition)
Wochenende die berühmte bleierne Müdigkeit. Dann schlief ich zwei Stunden und aller Stress war in der Ruhe der Natur vergessen. Nach einem solchen Wochenende fühlte ich mich erholt wie nach einer Woche Urlaub. Ach, sagte Verena, vielleicht könnte ich die »maison à la campagne« von Eugène Ionesco mieten, mit dem sie befreundet sei. Der nutze sein Landhaus seit Jahren nicht mehr. Es lag in der Normandie, eine Autostunde von meiner Wohnung mitten in Paris entfernt.
Es klappte. Und so haben wir uns angefreundet. In eines seiner letzten Bücher hat er mir als Widmung geschrieben, ich sei der letzte Freund, den er in seinem Leben noch kennengelernt habe.
Ein- oder zweimal jeden Sommer stiegen Eugène und Rodica in mein Auto. Wir fuhren in die Normandie, sie setzten sich auf die Terrasse ihres Hauses und schauten in den weiten Garten, durch den ein kleiner Bach floss. Hinter einem Gebüsch war ein vergammelter Tennisplatz und im hinteren Teil wuchs ein dünner Baum in einem ehemaligen Schwimmbad. Im wilden Gestrüpp am Ende des Grundstücks wohnte sogar ein Paar Kraniche. Das Anwesen hatte einst Sacha Guitry gehört, dem berühmten Regisseur, Schauspieler und Dramatiker.
Noch heute sehe ich Eugène Ionesco vor seinem Schreibtisch im Landhaus stehen. Gedankenverloren sagte er mir: »Hier habe ich einige meiner schlechteren Stücke geschrieben.« Am Treppenaufgang stand ein kleines Kunstwerk aus zwei platt- gedrückten Cola-Dosen, das ihm der amerikanische Dramatiker Edward Albee, Autor von »Who’s afraid of Virginia Woolf«, gewidmet hatte.
Den Ausflug beschlossen wir immer mit einem Mittagessen in einem ordentlichen Landlokal. Und wie immer bestellten Rodica und ich eine besondere Portion Pommes frites, die wir, dabei schauten wir uns verschwörerisch an, mit den Fingern aßen. Im Gegensatz zu anderen am Tisch waren wir nämlich davon überzeugt, dass Pommes frites nur schmecken, wenn sie mit Fingern gegessen werden.
Eugène Ionesco war ein Mann, der stets zwischen Witz und Angst schwankte. So erzählte er mir zum Beispiel schelmisch lachend, weshalb alle glaubten, er sei drei Jahre jünger als in Wahrheit. Als ihm der Durchbruch mit seinen beiden Einaktern »Die Kahle Sängerin« und »Die Unterrichtsstunde« gelang, war er schon knapp über vierzig gewesen. Da hatte ihm sein Freund, der Kritiker Jacques Lemarchand, gesagt: »Für einen Autor der Avantgarde bist du zu alt, also ändere das.« So machte sich Ionesco einfach um drei Jahre jünger. Und so steht es heute noch in vielen Büchern.
Auf die Idee zu diesen Stücken hatte ihn das Englischbuch seiner Tochter gebracht. Darin standen Sätze wie »My tailor is rich«. Es sei Schwachsinn, sagte Ionesco, solche Sätze zu lernen. Nie im Leben würde man zu jemandem sagen: »My tailor is rich.«
Wenn ich Rodica die Bises gegeben hatte, bat sie mich herein. In dem kurzen Gang – eine Tür trennte die dahinter liegenden Privaträume von Salon und Esszimmer – häuften sich Bücher. Rechts, zum Boulevard Montparnasse hin, mit einem kleinen Balkon davor, lag ein Salon von bescheidener Größe. An der langen Wand stand ein übervoller Glasschrank mit Ionescos Büchern, darauf lag ein alter messingfarbener Helm, den ihm die Pariser Feuerwehr in Erinnerung an die »Kahle Sängerin« überreicht hatte. So ist das in Paris – auch die Feuerwehr hat Sinn für Literatur. Und nicht nur die: Als ich wieder einmal Eugène und Rodica mit dem Wagen abholte, parkte auf der Busspur direkt vor ihrem Haus ein Kleinbus der Polizei. Obwohl es verboten war, stellte ich meinen Wagen davor ab und bat die Polizistin am Steuer ihres Gefährts, doch ein wenig zurückzufahren, weil ich einen alten Herrn abholte, der nicht gut zu Fuß sei, Monsieur Ionesco. »Ah! L’Académicien«, sagte sie, gab mir damit zu verstehen, dass sie natürlich von der Mitgliedschaft des großen Autors in der Académie franc¸aise wisse, ließ den Motor an und machte Platz für den, der die Macht des Geistes repräsentierte.
Eugène saß immer auf dem kleinen Sessel neben der Tür. Ein Sofa stand an der Wand, ein paar weitere Sessel waren im Rund drapiert. Er trug meist einen blauen Anzug zu seinem Rollkragenpullover und redete viel und gestenreich mit seinen verknorpelten Händen. Der runde Knopf mit der hohen Glatze wurde von den großen braunen Augen und ihren enormen Lidern und Tränensäcken beherrscht, darunter wirkte der Mund mit schmaler Ober- und breiter Unterlippe fast klein.
An den Wänden
Weitere Kostenlose Bücher