Neugier und Übermut (German Edition)
nicht gehört.
Nach Polen ist er dann aber doch nicht gefahren – die Gesundheit erlaubte es nicht, aber wichtig war ihm, wochenlang von der bevorstehenden Reise zu träumen. »Ich reise ab, ich reise gern ab«, sagte er.
»Gibt es einen psychologischen Grund, weshalb Sie so gern abreisen, einfach weggehen?«
»Ja, das ist eine psychologische Angelegenheit. Ich habe einfach Lust, anderswo hinzugehen, zu fliehen – ich weiß nicht so recht. Wenn ich an Ort und Stelle bleibe, habe ich den Eindruck, dass mir größere Gefahren drohen, als wenn ich herumreise. Ich liebe das Aufbrechen, ein französischer Dichter hat einmal gesagt, Abschied nehmen heiße ein wenig sterben. Ich glaube, das Gegenteil ist richtig: Fortgehen heißt ein wenig leben. Also reise ich ab.«
»Sind Sie immer gern abgereist?«
»Ich bin schon immer gern abgereist, aber früher tat ich es sehr selten, denn Reisen war teuer, und ich selber hatte nicht viel Geld. Heutzutage habe ich Geld, obendrein bezahlt man mir auch noch meine Reisen. Früher, als ich kein Geld hatte, zahlte man sie mir nicht, die Reisen.«
»So ist das immer. Ist es Ihnen egal, wohin Sie reisen, ist es nur wichtig, dass Sie reisen?«, fragte ich und dachte daran, dass auch ich gern reiste, einfach abreiste.
»Ja, einfach abreisen, neue Orte kennenlernen. Es macht mir Freude, Menschen zu treffen, Neues kennenzulernen. Nur selten entdecken wir Neues in der Landschaft und in den Städten, die sich allmählich alle ungeheuer gleichen. In Ihrem herrlichen Land, Deutschland, gab es früher so schöne Städte, zum Glück sind einige noch übrig geblieben, aber die meisten sind kleine New Yorks geworden, Abklatsch von New York. Wenn Sie in der Wüste spazieren gehen, dann entdecken Sie etwas. Die Wüste ist etwas Neues. Als ich einmal in Israel war, fragte mich der Landwirtschaftsminister, der gegen die Wüste ankämpfte, um etwas Boden zu gewinnen: ›Was hat Ihnen hier in Israel am meisten gefallen?‹ Ich habe dem Minister ganz dumm geantwortet: ›Die Wüste.‹ Ich würde gern eine Wüste finden. Heute findet man die Wüste in den Großstädten; aber das ist eine andere Wüste, die Einsamkeit. ›Le solitaire‹.«
»Warum suchen Sie die Einsamkeit?«, fragte ich ihn.
»Weil ich in der Einsamkeit dem Menschen begegne. Unter vielen kann ich ihn nicht mehr finden.«
»Wo stehen Sie? Welche Art von Einzelgänger sind Sie?«
»Ich versuche, ein echter Einzelgänger zu sein, aber zwangsläufig bin ich es nicht. Ich stehe im Kontakt zu allen Arten von Welten, zu den Zeitungen, den Massenmedien. Ich weiß nicht einmal, ob ich etwas bewahre von dem, was mein Ich ist und was von mir übrig bleibt. Das heißt gerade das, was die anderen auch ausmacht, ihre eigentliche Tiefe. Denn das Ich ist, wie ich Ihnen gerade sagte, letztlich nicht von den anderen getrennt. Es begegnet den anderen in sich selbst.«
Und auf die Frage: »Was würden Sie gern im eigenen Ich entdecken?«, gibt Eugène Ionesco eine kurze Antwort, die zeigt, womit er sich zeit seines Lebens beschäftigte:
»Gott.«
»Existiert er?«
»Er existiert nicht. Er ist. Dennoch existiert er, aber wir haben nur einen Zugang zu ihm durch die Existenz Jesu Christi.«
»Sie sagen, Sie würden in Ihrem Ich Gott begegnen. Was ganz konkret glauben Sie darin zu finden?«
»Das ist schwer zu sagen. Ein Licht, eine Gegenwart. Meine Tochter sieht Gott, wenn sie die byzantinischen Ikonen anschaut, in Jesu Augen. Plötzlich glaubt sie, eine Präsenz zu spüren, und genau das ist Gott: präsent. Diese Erfahrung habe ich selber gemacht, als ich erst achtzehn Jahre alt war. Ich befand mich in einer kleinen Provinzstadt, frühmorgens im Juni. Plötzlich wurde das Licht blendend weiß, viel strahlender als die Sonne und die Wäsche, die zum Trocknen im Hinterhof hing, und die alte Bettwäsche sah plötzlich übernatürlich und schön aus. Alles schien mir unsagbar schön. Und vor allem spürte ich diese Gegenwart, die mich denken und sagen lässt: Nie wieder werde ich Angst vor dem Tod haben. Wenn ich alt sein werde, werde ich mich an diesen Augenblick erinnern und keine Angst haben. Aber das ist jetzt nur noch die Erinnerung einer Erinnerung einer Erinnerung einer Erinnerung. Den Augenblick selbst gibt es nicht mehr. Diese Gegenwart ist gewichen. Dieses mystische Phänomen, das nur einige Augenblicke gedauert hat, löste sich auf, und danach schien mir die Sonne düster zu sein. Solche Erfahrungen sind sehr, sehr selten. Voller Licht
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