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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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und Intensität. Genau das bewahrt einen vor dem Sterben, lässt einen trotz der Finsternis der Welt hoffen. Manchmal sieht man auch im Traum einen Tunnel zum Beispiel, und am Ende des Tunnels das Licht. Man geht auf das Licht zu. Diesen Traum habe ich Freunden erzählt, anscheinend ist es ein archetypischer Traum, was ich nicht wusste. In den Augenblicken tiefster Verzweiflung taucht dieser Traum auf.«
    Diese Momente der Verzweiflung überkamen ihn immer wieder. Verzweiflung und »le cafard«, düstere Gedanken und Vorahnungen.
    Weil mir diese Gespräche so viel bedeuteten, begann ich, sie mit der Kamera aufzuzeichnen. Ich würde daraus einen einstündigen Film für den WDR machen. Und so begleitete ich ihn auch einige Tage nach Sankt Gallen, wo er in der Werkstatt der Galerie Erker am Gallusplatz seine bunten Bilder von Strichmännchen malte. Ein Psychiater, der ihn behandelte, hatte ihm empfohlen, zu malen. Rodica saß bei ihnen und schaute zu. Und diesmal auch ich. Plötzlich stand Eugène auf und sagte, ich rufe jetzt Marie-France an. Er hing sehr an seiner Tochter. Er ging fort und kam nach zehn Minuten schleppenden Schritts zurück. Da er kein Wort sagte, fragte ihn seine Frau, was Marie-France gesagt habe. Nichts habe sie gesagt, erklärte er. Nichts. Er habe sie nicht angerufen. Er habe nicht sprechen können. »Le cafard« habe ihn gelähmt.

    Als nach einigen Monaten der Film »Der Alte und das Absurde« fertig war, wurde er im Centre Pompidou vorgeführt. Eugène und Rodica Ionesco waren sehr zufrieden. Der Film zeige ihn so, wie er sich sehe. Solch einen Film habe bisher noch niemand über ihn gedreht. Und dann sagte er, ich müsse unbedingt einen ähnlichen Film mit Cioran drehen. Emil Cioran stammte aus Rumänien, lebte hoch unter dem Dach in der Rue de l’Odéon im Quartier Latin, und gehörte zu den engen Freunden Ionescos. Auch ihn hatte ich schon mehrfach getroffen, einen versteckten Schelm, mit weisem Humor und kurzen Sätzen. Während EugèneIonesco auf eine Frage mit einem ganzen Schwall von Worten und Ideen antworten konnte, war Cioran ein Mann der Aphorismen, der brillante Gedankensplitter formulierte. Ionesco rief also Cioran an und setzte mich unter Druck. Wir verabredeten ein Abendessen bei mir zu Hause, weil wir dort Cioran den Film über Ionesco vorführen konnten. Eugène schwärmte Cioran vor, wie großartig ein Film auch über ihn werden könnte, aber der wollte nicht so recht. Cioran zierte sich nicht, die Idee war ihm einfach unangenehm.
    Und dann habe ich einen Fehler begangen.
    Cioran las einige Tage später in der Buchhandlung Calligrammes, und ich meldete mich mit Kamerateam an. Im Anschluss an die Lesung versuchte ich ein Interview mit ihm zu machen. Es klappte nicht. Denn seine Antworten waren noch kürzer als meine recht knappen Fragen. Ich gab das Projekt auf. Wahrscheinlich zur Erleichterung von Emil Cioran.
    Einmal fragte Eugène Ionesco mich, ob ich an Gott glaube, und schwieg, als ich es verneinte. Ob er daran glaube? Er nahm tief Luft und sagte: »Ich bin einer von denen, die morgens im Bett liegen und beten: Lieber Gott, mach, dass ich an dich glaube!«
    Aber er hat sich über die Maßen gefreut, als Papst Johannes Paul II. ihm einen Brief schrieb (»Ich bete für Sie«) und zu seiner Kolbe-Oper gratulierte. Mehrmals erzählte er von dem Brief.
    Ein paar Jahre später, als wir über Ionescos Lektüre sprachen, sagte er, er lese gerade in der Bibel, aber da komme ihm doch einiges sehr sozialistisch vor, und manches sei ja auch ganz frivol – und er machte wieder diese Pause mit dem Buster-Keaton- Gesicht, sodass man ahnen konnte, wie wenig ernst er meinte, was er da gesagt hatte. Er suchte wahrscheinlich die Erlösung von seinem »cafard«, die er im Glauben nicht fand.
    Diesen Zugang zum Glauben an Gott suchte er bis zu seinem Tode. Als Eugène Ionesco 1994 starb, moderierte ich in den Tagesthemen den Nachruf an, den ich selber gemacht hatte. Und dann fuhr ich nach Paris zu seiner Beerdigung. In einer orthodoxen Kirche wurde eine Messe für ihn gelesen. Die Trauernden standen bis auf die Straße. Zu Grabe getragen wurde Eugène Ionesco auf dem Friedhof Montparnasse, wohin ihm Rodica inzwischen gefolgt ist.
    Manchmal besuche ich sie dort. Und dann erinnere ich mich daran, wie Rodica mir am offenen Grab gesagt hatte, ich möge bitte mit nach Hause kommen in die Wohnung neben der Coupole. Vielleicht könne ich ihr helfen.
    Unter den Gästen fand ich einen jungen

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