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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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nationalen Pferdegestüte debattiert wurde, schlug Mirabeau eine »Deklaration der Pferderechte« vor, hatte die Lacher auf seiner Seite und verhinderte die ernsthaften Gesetzesvorhaben.
    Dann sah Coluche mich plötzlich ernst an und sagte: »In Frankreich wird Humor ernst genommen. Sehen Sie doch, hier …« Er holte aus einer kleinen Schachtel einen wunderschönen Orden hervor und hielt ihn sich an die Brust, »… hier trage ich die Auszeichnung als Chevalier des arts et lettres. Den hat mir Kulturminister Jack Lang persönlich umgehängt! Die Republik nimmt mich ernst.«
    Und dann steckte er den Orden eines Ritters der schönen Künste wieder in die Schachtel und flüsterte: »Les enfoirés!«
    Unter Humor verstehen Franzosen etwas anderes als Deutsche.
    Im französischen Standardlexikon »Robert« wird Humor als eine Geistesform definiert, »die darin besteht, die Wirklichkeit so darzustellen oder zu verformen, dass ihre lustigen und ungewöhnlichen Seiten vorkommen.« Etwa so: Pauline Bonaparte heiratete einen Borghese und zog nach Rom, wo der Bildhauer Antonio Canova sie bat, Modell zu stehen. Pauline sagte zu, und Canova schuf eine wunderbare Marmorstatue: Die schöne Pauline liegt mit ihren formvollendeten Brüsten völlig bloß, nur mit einem Tuch um die Hüften bekleidet, wie hingegossen auf einer Chaiselongue. Von einer prüden Italienerin gefragt, weshalb sie denn nackt posiert habe, antwortete Pauline: »Weshalb hätte ich es nicht tun sollen? Das Zimmer war geheizt.«
    Im deutschen Lexikon wird Humor so definiert, dass nicht nur Paulines Antwort, sondern ihr ganzes Verhalten unziemlich erscheint. Denn der Duden hält Humor für die »Gabe eines Menschen, der Unzulänglichkeit der Welt und der Menschen, den Schwierigkeiten und Missgeschicken des Alltags mit heiterer Gelassenheit zu begegnen«.
    Die Reaktion der Bürger auf Coluche, aber auch die des Kulturministers Jack Lang als Repräsentant der Republik zeigen, wie recht der Philosoph Henri Bergson hat, der die These vertritt, das Komische sei – stets verbunden mit der Lebensfreude – ein simulierter Sieg der Ursprünglichkeit über das Geläufige. Und zwar nur ein simulierter Sieg, da ein echtes Überwinden der in der Gesellschaft anerkannten Verhaltensregeln nur unter Gefahren möglich ist.
    Nach unserem Gespräch in seinem Haus am Park Montsouris habe ich Coluche insgeheim Abbitte getan und meine Vorurteile revidiert. Vorurteile, die ich nicht nur ihm gegenüber hatte, sondern auch anderen, die man leichthin als »Clowns« abtut, wie etwa Aguigui Mouna.

    Ja, ich muss zugeben, dass ich Mouna für einen »Verrückten« hielt, als ich ihn im Frühjahr 1978 zum ersten Mal sah. Der Sturm hatte den Supertanker Amoco-Cádiz auf die Klippen von Portsall, einem kleinen bretonischen Fischerort, getrieben. Das Öl war ausgelaufen, und wie ein rostiges Mahnmal ragte die Bugspitze zwanzig, dreißig Meter hoch aus dem Meer. Vögel verendeten am Strand oder ertranken in den Wellen, weil ihr Gefieder verklebt war. Nicht Wasser plätscherte ans Ufer, sondern eine schwere schwarze Flüssigkeit schwappte träge an die Felsen und färbte, wo sie sich zurückzog, alles dunkel ein.
    Ich war mit einem Kamerateam hierhergeeilt, um über das Unheil zu berichten. Wir standen am Strand, uns allen war übel von dem ständigen Ölgeruch in der Luft, als hinter den Granitfelsen ein lautes Fluchen erklang, ein Lärmen und Getöse, und Aguigui Mouna, völlig verschmiert, kletterte mit einem hilflosen Kormoran im Arm hervor. Mouna war ein kleiner alter Mann mit wuscheligem Vollbart und langen weißen Haaren, bunt und möglichst originell gekleidet. Er kam auf uns zu und schimpfte auf die Tanker, auf Leute, die der Natur keinen Respekt zollen; er klagte und jammerte – fehlte nur noch, dass er schluchzte, aber nein, das war nicht sein Stil.
    Er war ein einsamer Rufer in dieser Wüste, und das schon Jahre bevor es modern wurde, kritisch zu sein.
    Wo immer in Frankreich in den nächsten Jahren auf Unrecht aufmerksam gemacht werden musste und Journalisten anreisten, um darüber zu berichten, traf ich auf Aguigui Mouna: im Larzac, wo es gegen das Militär ging, in Plogoff in der Bretagne, wo eine Atomzentrale verhindert werden sollte, und in Lyon, beim Prozess gegen den mörderischen SS-Mann Klaus Barbie. Mouna fehlte nicht auf der Place de la Concorde, wenn die Jugend sich zum Konzert gegen Rassismus versammelte, noch als Volkstribun im Jardin du Luxembourg, wenn er – wie

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