Neugier und Übermut (German Edition)
Soziologe Jean Cazeneuve, einige die Gesellschaft auf eine merkwürdige Art; Humor wirke befreiend, da er alle vereine im Kampf gegen die »Bedrohung durch das Einheitsdenken«. Und kaum etwas ist für einen freiheitsliebenden Franzosen grässlicher als die Vorstellung, alle Franzosen seien gleich.
Alle liebten Coluche als Verkörperung eines bestimmten französischen Humors, manche hassten ihn gleichzeitig. Eine Zeit lang trat Coluche im französischen Privatfernsehen mit einer täglichen Witzsendung auf, die so grob war, dass ich den Fernseher häufig schnell ausschaltete. Er erklärte zum Beispiel, weshalb man Frauen im Sommer als Fliegenfänger benutzen sollte – weil sie so nach Fisch stänken. Ich musste erst lernen, dass dies nicht sein Witz war, sondern dass er all die primitiven Grobheiten aussprach, die täglich gedacht oder hinter vorgehaltener Hand geäußert, aber von der Gesellschaft geflissentlich übersehen werden.
Anders als die Komik von Karl Valentin oder Werner Finck, sagte Coluche seinem Publikum in dessen eigenen Worten, was es heimlich an die Toilettenwände schreibt. Coluche spielte Echo und Spiegel, was ich manchmal schwer zu ertragen fand. Er, der Linke, sprach über Araber und Juden, wie die Leute vom rechtsradikalen Front National, und über Sex und Politik redete er wie die ordinärsten Männer aus der Gosse.
Am meisten erschreckte Coluche das etablierte Frankreich, als er verkündete, bei der Wahl zum Amt des Präsidenten im Jahr 1981 kandidieren zu wollen – um die wirklichen Politiker zu »verarschen«. Damals lernte ich ihn kennen. Und ich muss zugeben, dass ich Hemmungen hatte, ihn zu besuchen. Aber seine Ausstrahlung auf die Franzosen war so groß, dass 16 Prozent der Befragten erklärten, sie könnten sich vorstellen, Coluche zu wählen. Damit lag er in den Umfragen vor Georges Marchais, dem Chef der damals noch starken Kommunistischen Partei Frankreichs. Coluche wurde zu einem politisch interessanten Faktor. Wieder spornte mich die Neugier an, ich wollte jetzt mehr von ihm wissen, das Phänomen Coluche verstehen und im Fernsehen darüber berichten.
Erst wenn man ihn besser kennt, begreift man, was ihn für die Franzosen so anziehend macht. Der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Coluche, dessen wirklicher Name Michel Colucci auf seine italienische Herkunft verweist, war schlicht ein feiner Mensch, der als Clown, als witziger Filmschauspieler, aber auch in ernsthaften Rollen umjubelt wurde. Von seinen Tantiemen spendete er einen großen Teil wohltätigen Organisationen, ohne dass es in die Presse kam.
Und als Frankreich seine »neue Armut« entdeckte, war er es, der die sozialen Mängel des Staates lindern half, indem er aufrief, »Restaurants du Coeur – Restaurants des Herzens« zu gründen, in denen Arme kostenlos gespeist würden. Die Spenden flossen.
Doch Coluche reichte das nicht.
Er sagte aus Erfahrung, die großzügigsten Spender seien Menschen mit geringem Einkommen. Doch das damalige Spendengesetz bevorzugte Großspender. Also schlug Coluche vor, Kleinspenden bis tausend Franc – damals so viel wie heute etwa dreihundert Euro – sollten zu siebzig Prozent steuerfrei sein. Alle Parteien stimmten dem zu. Doch nach seinem Tod haben die Beamten es erst einmal vergessen. »Les enfoirés«, hätte Coluche gerufen!
Zu seiner Trauerfeier schickte selbst Staatspräsident François Mitterrand einen offiziellen Vertreter. Und als die Sozialisten 1988 nach der Wiederwahl Mitterrands zum Präsidenten auch die Mehrheit im Parlament errungen hatten, verabschiedeten sie einen Steuererlass für Spenden, allerdings erst ab 1200 Franc. Aber das hatte sich doch Coluche genau anders gedacht! Denn im Durchschnitt gaben Spender für die Restaurants du Coeur nur 230 Franc. Aber in einem zentral regierten Staat wie Frankreich muss – und kann – der Präsident immer alles ins Lot bringen. Also wandte sich Coluches Frau, Veronique Colucci, Präsidentin der Restaurants du Coeur, hilfesuchend an den Staatspräsidenten.
François Mitterrand gab daraufhin seinem Budgetminister Michel Charasse den »Rat«, die kleinen Wohltäter steuerlich zu bevorzugen. So geschah es. Das Gesetz trägt deshalb auch den Namen »Loi Coluche«. Und in all den Jahren seither haben die wechselnden Regierungen die abzusetzenden Summen angepasst. Inzwischen kann man 75 Prozent einer Spende bis zu 521 Euro bei der Steuer geltend machen. Die Restaurants du Coeur verteilen jährlich über hundert Millionen
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