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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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hatte er einst von Höherem geträumt und gehofft, dass der Sohn Mediziner oder Ingenieur werden würde; Geld für die Ausbildung war vorhanden, aber nein, der Geruch ließ Roland nicht los. Er blieb dem Käse treu ergeben.
    Den Marktstand neben seinem Vater betrieb ein Fischhändler. Und der hatte eine Tochter, die kleine Nicole. Als die den jungen Roland heiratete, scherzte sie:
    »Ich habe eigentlich nur den Geruch gewechselt.«
    Und dann verriet sie mir noch ein Geschäftsgeheimnis. Der Käsehändler kann immer von einem gewissen Prozentsatz seiner Ware behaupten, er habe sie vernichten müssen, weil sie verkommen wäre. Dieser Prozentsatz liege bei Fisch noch sehr viel höher. Das ist wichtig für die Angaben gegenüber dem Finanzamt. Verkauft? Nein, weggeworfen. War verdorben. Das ist Bargeld!
    Als Nicole mit ihrem Roland ins Auto stieg, um zur Hochzeitsreise nach Spanien aufzubrechen, gehörte eine kleine Holzkiste zu seinem Gepäck: für vierzehn Tage Käseproviant.
    »Eine Mahlzeit ohne Käse«, begründete er mir seinen Entschluss, »konnte ich mir damals nicht vorstellen. Heute auch noch nicht!«
    Er hatte den Käse gut verpackt, im Auto rochen sie kaum etwas.
    Im Hotelzimmer wurde die Wegzehrung unter dem Lotterbett versteckt. Und jeden Abend, nach der Mahlzeit im Hotel, schlich sich das junge Paar aufs Zimmer und holte die Kiste hervor.
    Schon als Vierzehnjähriger hatte Roland die Schule verlassen und in den von Baltard entworfenen Markthallen von Paris bei Käsegrossisten gearbeitet. Noch heute schwärmt er vom Gewusel und Gewirr in den alten »Halles de Paris«, wo sich alles Menschliche traf. Hier lernte er von der Pike auf den Umgang mit dem fromage, wie man ihn aufbewahrt, liebevoll mit Calvados-, Weißwein- oder Bierlauge einreibt, seine langsame Entwicklung durch die Temperatur im Keller beeinflusst und allerhand andere Geheimnisse, die man Außenstehenden nicht verrät, um so den Käse reifen zu lassen, bis er den Höhepunkt seines Geschmacks erreicht hat.
    Sein ganzes Wissen hat Roland beim Packen der Holzkiste umgesetzt, und stolz erzählte er seiner Nicole, an jedem Tag der Reise werde ein anderer Käse seinen Geschmack und seinen Duft zur vollen Blüte entfalten.
    Käse ist für Roland ein sinnlicher Genuss.
    Das Zusammenwirken zweier Sinne sei ja eines der Geheimnisse dieses köstlichen Produkts. Während die durch den Schimmelprozess veredelten Käsemassen Faden-, Blätter- und Wallpapillen auf der Zunge so reizen, dass die einzelnen Geschmacksrichtungen deutlich wahrgenommen werden, ergänzt der Geruch den Genuss. Ein Geruch, der nicht nur von außen in die Nase steigt. Denn der Käse entfaltet noch im Mund einen starken Duft, der den Riechkolben direkt über die Rachenhöhle erreicht und betäubt.
    In Spanien war es heiß. Sehr heiß.
    Auch im Zimmer des kleinen Hotels, in dem das Hochzeits- paar übernachtete. Nach zwei Tagen drang eine erste Ahnung aus der Holzkiste. Rolands ausgeklügelte Strategie des täglich abgestuften Reifevorgangs schmolz dahin und entwickelte die unvermeidlichen Düfte. Kräftige Gerüche!
    Nicole machte sich Sorgen, was das Zimmermädchen wohl denken könnte. Ob das französische Pärchen zu arm sei, um essen zu gehen? Den Käse wegzuwerfen, kam beiden nicht in den Sinn. Da blitzte ein Gedanke auf. Roland nahm seine Strümpfe und hängte sie gut sichtbar über einen Stuhl, um dem Zimmermädchen eine andere Quelle des vermeintlichen Gestanks vorzugaukeln.
    Es ist ein himmelweiter Unterschied, ob man ein Lebensmittel dem Begriff »Nahrung« zuordnet oder es als Teil der Zivilisation, des kulturellen Erbes des eigenen Landes, gar der nationalen Identität einschätzt. Der Unterschied ist so groß wie der zwischen Deutschen und Franzosen. Diese Differenz lässt sich mit dem jeweiligen Verständnis für Käse messen: Für viele Deutsche besteht Käse aus pasteurisierter Milch und macht satt, für einen französischen Genießer wird der fromage aus Rohmilch hergestellt, und sein Genuss befriedigt. Das habe ich in den langen Jahren unserer Freundschaft von Roland gelernt.
    Vielleicht hat der französische Philosoph Pierre Bourdieu den feinen Unterschied zwischen Teutonen und Galliern entdeckt, als er feststellte, die Antithese von Kultur und Lust gründet im Gegensatz von intellektuellem Bürger, dem Abbild der Enthaltsamkeit, und dem Volk, »diesem phantasmagorischen Ort der rohen, ungebildeten Natur, dem reinen Genuss ausgelieferter Barbarei«. Denn das kann sich

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