Neugier und Übermut (German Edition)
Mahlzeiten und haben sich zu einer wichtigen sozialen Hilfsorganisation entwickelt, die ihre Aufgaben auch auf andere Bereiche ausgeweitet hat.
Um Coluche als »Präsidentschaftskandidaten« zu erleben, ging ich zuerst in eine seiner »Wahlversammlungen«, wie er seine abendliche Einmannschau im Pariser Boulevard-Theater »Gymnase« nannte. Immerhin musste man fünfzig Mark für die besten Plätze hinlegen, trotzdem waren die Vorstellungen zwei Monate im voraus ausverkauft. Denn Coluche bot, wonach die Zuschauer lechzten: Mit ordinären Ausdrücken beleidigte er alle Politiker. Er sagte, weil Politiker sich angeblich wie Clowns aufführten, sollte der Clown Präsident werden.
Coluche trat mit gestreifter Latzhose und blau-weiß-roter Schärpe auf die Bühne und rief dem Publikum zu: »Meine Damen und Herren, uns können die da oben am Arsch lecken. Wählen Sie mich, ich kandidiere für Sie, obwohl mir das alles scheißegal ist.« Und schon lag er hinter Giscard und Mitterrand an dritter Stelle bei den Wahlvorhersagen. Jeder Berufspolitiker fürchtete, Coluche könnte ihm Wähler abspenstig machen.
Coluches Erfolgsrezept war, dass er aussprach, was der Durchschnittsfranzose dachte, aber ernsthaft nicht öffentlich zu sagen wagte: Politik ist ein schmutziges Geschäft. Und weil Frankreichs politischer Alltag zunehmend von Skandalen, von der autoritären Regierungsmacht, von der Ohnmacht der Bürger geprägt wurde, weil sich weder neue Gedanken noch unverbrauchte Politiker durchsetzen konnten, kam die hemmungslose Kritik bestens an.
Der Soziologe Pierre Bourdieu, der schwer verständlich, im Jargon eines deutschen Professors schrieb, deutete Coluches Wirkung so: »Das Auseinanderklaffen zwischen den Erwartungen von Ernsthaftigkeit oder den Forderungen nach Unparteilichkeit, die in der demokratischen Übertragung der Macht liegen und der Wirklichkeit von mikroskopischen Manövern trägt dazu bei, eine aktive Gleichgültigkeit zu verstärken, wie sie Coluche einen Moment lang symbolisierte.«
16 Prozent sagten die Umfragen für Coluche als »Präsident- schaftskandidat« voraus. Und das Auseinanderklaffen zwischen den Erwartungen auf Ernsthaftigkeit und Wirklichkeit wirkt auch heute noch bei Wahlen.
Bei der Präsidentschaftswahl 2012 schaffte es Marine LePen, Chefin des rechtsradikalen Front National, gerade junge Menschen, die unter der Diskrepanz von politischem Wollen und Wirklichkeit leiden, mit Stammtischparolen für sich zu begeistern. Sechs Millionen Stimmen erhielt der Front National. Für den zweiten Wahlgang wollten sowohl der Sozialist François Hollande wie auch der zur Wiederwahl anstehende Präsident Nicolas Sarkozy so viele Stimmen wie möglich aus dem Lager dieser rechtsradikalen Partei fischen.
Hollande meinte, die Bürger hätten mit ihrer Stimme für den Front National »Wut und Leiden« ausgedrückt. Und nun sei doch er der rechte Kandidat.
Sarkozy sprach auch von einer »Wahl des Leidens« und übernahm die ausländerfeindliche Rhetorik der Rechten.
Beide können froh sein, dass Coluche nicht mehr lebt. Denn Coluche hätte solche Sprüche als Geplapper von Populisten entlarvt.
Keine politische Richtung hat er verschont.
Coluche hielt sich an das zwanzig Jahre zuvor von dem Populisten Poujade geprägte Wortspiel über Frankreichs Politiker: »Un pour tous, tous pourris!« – Einer für alle, alle korrupt! Poujade, mit dem Coluche sonst nichts verband, hatte den edlen Wahlspruch der Musketiere verdreht: »Einer für alle, alle für einen.«
In Coluches »Wahlversammlungen« lachte das Publikum nicht nur, viele nahmen die Ankündigung seiner Kandidatur auch ernst.
»Das würde wenigstens einen Wechsel bringen«, begeisterte sich ein seriöser Herr, den ich im Anschluss an den Auftritt des Politclowns nach seiner Meinung fragte: »Ich werde Coluche wählen. Wir alle haben die Schnauze voll, und das sagt Coluche mit groben Worten, weil er weiß, wie die Leute fühlen. Ihm gelingt es, alle zu verarschen, und dafür zahlen die Leute sogar noch teures Geld!«
Weil diese Wahrheit nicht allen gefiel, brauchte Coluche schließlich sogar Polizeischutz. Eine rechtsradikale Organisation, die sich »Ehre der Polizei« nannte, bedrohte ihn, und das war nicht zum Lachen, denn diese Gruppe hatte schon einen Mord auf dem Gewissen. Sie hatten Coluches Regisseur René Colin umgebracht.
Ich besuchte Coluche in seinem Backsteinhaus in der Nähe vom Park Montsouris. Ganz in der Nähe haben der Pariser
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