Neugier und Übermut (German Edition)
trat, konnte ich kaum jemanden erkennen. Die offene Bühne war in ein flaches Licht getaucht. Ein Bühnenarbeiter stand auf einer Leiter. Eine Frau, es wird wohl Eve Adamson sein, dachte ich mir, gab ihm Anweisungen. Auf einem Eckplatz in der zehnten von nur rund zwanzig Reihen saß Tennessee Williams in einem dunklen, etwas abgetragenen Mantel, mit strubbeligem Haar, fahler Haut, um seinen Schnäuzer herum unrasiert. Er reagierte sehr freundlich, als ich mich ihm vorstellte. Ja, natürlich könnten wir bei der Premiere drehen, vielleicht ein wenig vorher auch bei den Proben. Er stellte mich Eve vor, die wenig Zeit für mich hatte, und zog mich in eine der letzten Reihen.
»Sie sollten wissen, worum es in dem Stück geht«, sagte er. »Der Titel lautet ›Something Cloudy, Something Clear‹«.
Die Handlung ist schnell erzählt. Sie spielt 1940 in Provincetown, dem heimlichen Treffpunkt von Homosexuellen an der Spitze von Cape Cod, zu Zeiten als Homosexualität ein Tabu war. Ein aufstrebender Autor will einen jungen kanadischen Wehrdienstverweigerer ins Bett ziehen. Autobiographisch. Eine Geschichte schon mehrmals von Tennessee Williams irgendwie erzählt. Wir unterhielten uns gut zwei Stunden, während die Probe lief. Ab und zu warf Tennessee Williams der Regisseurin Eve den Vorschlag zu, diesen oder jenen Dialog doch zu ändern, ja, manchmal erklärte er, am Abend eine Szene umzuschreiben. Eve ging meist auf seine Bemerkungen ein. Aber nicht immer. Und dann wirkte er wie ein kleines Kind, das nicht bekommt, was es unbedingt haben möchte.
Am Nachmittag vor der Premiere kam ich mit dem Kamera- Team. Wir drehten einige Szenen während der Generalprobe, und Tennessee Williams gab mir ein Interview, in dem er die Geschichte noch einmal erzählte. Aber er wirkte so, als hätte er sich von Regina bei Phebe’s eine Karaffe Weißwein geben lassen und sie allein ausgetrunken.
Als die wenigen Zuschauer die Eisentreppe hochstiegen, um ihre Plätze für die Premiere einzunehmen, war es schon dunkel. Ich sah Tennessee Williams allein, ein wenig verlassen über die Straße tapern. Und dann war ich der Einzige, der sich um ihn kümmerte und ihn begrüßte. Die Theatergäste taten so, als kennten sie ihn nicht, diesen leicht ungepflegten Mann, der seinen verknüddelten Mantel nie ablegte. Vielleicht erkannten sie ihn wirklich nicht. Es waren nicht alle Sitze belegt. Einige Leute gingen während der Vorstellung. Wir drehten dann den Applaus. Er war sehr mager. Eve verschwand mit ihrem Autor hinter der Bühne.
Die kurze Kritik in der New York Times war vernichtend. Das Stück wurde bald abgesetzt.
Zwei Jahre später habe ich noch einen Artikel in der New York Times über Tennessee Williams gelesen. Er hatte sich abends ein paar Tabletten einwerfen wollen und dabei versehentlich den Drehverschluss der Medizindose mit in den Hals geworfen. Der fiel dummerweise in seine Luftröhre, und daran war er erstickt.
Der Mörder Jack Henry Abbott und
sein Freund Norman Mailer
Er saß im Gefängnis von Queens, Jack Henry Abbott, den sein Leben hinter Mauern zur tragischen Figur, aber auch zum Dichter werden ließ.
»Sag es Amerika, dass seine Männer und Frauen immer wieder zur Gewalt greifen werden, solang Behörden und Anstalten mit Gewalt regieren, solang Schwindel und Gewalt der kulturelle Mantel dieser Gesellschaft sind. Erst wenn Amerika mit Zorn auch die Gewalt verfolgt, die mir in meinem Leben angetan wurde – und zahlreichen anderen Menschen –, wird die Gewalt ein Ende nehmen.«
Jack Henry Abbott las im Gefängnis aus seinem Buch »In the Belly of the Beast« – Im Bauche der Hölle – vor. Es trug den Untertitel »Letters from Prison« – Briefe aus dem Gefängnis – und war wenige Monate zuvor mit einem Vorwort von Norman Mailer veröffentlicht worden.
Pünktlich zum Erscheinungstermin war Jack Henry Abbott mit Mailers Hilfe vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen worden. Haftverschonung auf Bewährung. Aber dann erstach er einen jungen Mann, und schon hockte er wieder hinter Gittern. Vor zehn Tagen hatte sein Prozess begonnen.
Jetzt saß er im Aufenthaltsraum in der fünften Etage des Gefängnisses im New Yorker Stadtteil Queens. Gemütlich sah es da nicht aus. Vergitterte Fenster, die kaum Licht durchließen. Holzbänke, ein paar Plastikstühle und lange Holztische. Er hielt sein Buch mit beiden Händen. Auf die Knöchel einer Hand hatte er die Buchstaben J-A-C-K eintätowieren lassen. Das sollte ihm später zum
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