Neugier und Übermut (German Edition)
Und es gibt wohl auch eine Reihe von gesetzestreuen Bürgern, die bereit wären, nicht weiter in der Vergangenheit anderer zu stochern, weil sie nicht die Ersten sein würden, die hier untertauchen.«
Boyce nahm sogar – gegen Barzahlung – Flugstunden, denn er wollte einen Komplizen mit einem Hubschrauber aus dem Gefängnis holen. Flugunterricht nahm er bei einem pensionierten General, der bei der NATO und im amerikanischen Generalstab gedient hatte. Er schilderte Boyce als einen sympathischen jungen Mann, den er gern zum Freund hätte. Auch er, General William Georgi zog in den Westen, weil er sich hier so viel freier fühlt. Man hat im Westen, wie er sagte, eine andere Vorstellung vom Staat als im Osten.
»Ich glaube, die meisten der Leute, mit denen Sie gesprochen haben«, sagte mir der General im Interview, »haben beteuert, dass sie Boyce nicht ausgeliefert hätten. Sie werden sich nämlich gefragt haben, welchen Schaden Boyce eigentlich angerichtet hat. Viele Leute hier können sich nicht vorstellen, dass der Schaden wirklich groß war. Für sie ist es mehr eine persönliche Frage: Was hat er getan, um diese Gegend zu schädigen?«
Verraten wurde Christopher John Boyce von einem Komplizen bei einem Bankeinbruch, der sich als Kronzeuge damit freikaufte.
»Das tut man eigentlich nicht«, sagte Terry.
Drei Jahre nach unserem nächtlichen Gespräch am Lagerfeuer wurde Boyce im Jahr 2002 aus dem Gefängnis entlassen. Nach 24 Jahren Haft. Er heiratete eine junge Frau, die sich jahrelang um seine Freilassung bemüht hatte. Und Boyce verkündete reuevoll, er habe doch nur gehofft, er könne mit seiner Tat den Frieden zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten fördern.
Zur Sehnsucht nach der unendlichen Freiheit gehört wohl auch eine riesige Portion naiver Glauben an das Gute im Menschen.
»Hättest du ihn je verraten?«, fragte ich Terry.
»Nie!«
Der Cowboy wusste so viele persönliche Kleinigkeiten von Christopher John Boyce, dass ich eine Vermutung hatte. Aber dann beantwortete er meine Frage, ob er Boyce vielleicht kennengelernt hatte, doch nicht. Er stand einfach auf und sagte nur: »Bis morgen.«
Acht Tage ritten wir, hoch über den einen oder anderen Pass, wo in manchen Ecken Schnee lag, hinauf auf Hochebenen, die den Blick freigaben auf weite Wälder und Täler, bis hin zu den dramatisch aufragenden Spitzen des Teton-Gebirges. In die Täler hinab führten wir die Pferde, die mit unendlicher Ausdauer die steilsten Wege zwischen den Bäumen hochgeklettert waren. Einen halben Tag lang dauerte der Ritt entlang eines Flusses, den die Biber immer wieder mit ihren Dämmen aus Baumstämmen aufgestaut hatten.
Die meisten Erzählungen über die Rocky Mountains stammen vom Anfang des 19. Jahrhunderts, denn der erste weiße Mann, der die Gegend des »Yellow Stone« entdeckte, war zweifelsohne John Colter, ein Mitglied der Lewis-und-Clark- Expedition, die 1806 von der Erkundung der Pazifikküste zurückkehrte. Als Colter später im Osten von den Wundern dieses Gebirges, den Seen, den Geysiren, dem Tierparadies erzählte, wollte ihm niemand glauben, und er wurde als Aufschneider ab- getan. Die Größe, die Höhe, die Weite dieser Landschaft glaubhaft wiederzugeben, fällt in der Tat schwer, so als erzählte man einem Bauern, der nie sein kleines Dorf in Sizilien verlassen hat, von Häusern, die fünfhundert Meter hoch sind.
Einmal überkam uns alle Angst. Berechtigte Angst.
Terry und Marcia taten so, als bemerkten sie es nicht. Wir mussten eine zweistündige Strecke an einem Felsberg entlangreiten, der Weg war gerade so breit, dass ein Pferd dort schreiten konnte. Links stieg der Fels Hunderte Meter hoch, rechts fiel er steil fast tausend Meter tief ab. Nur ein falscher Tritt des Pferdes, und man wäre in den Tod gestürzt. Ich wagte nicht hinunterzuschauen, konzentrierte den Blick auf die Hufe des Pferdes vor mir und dachte an die Worte von Terry, der erklärt hatte, dass ein Pferd erst dann einem Reiter zugeteilt werde, wenn es zehn Jahre lang als Packpferd gedient habe.
Zu Terrys Aufgaben gehörte es auch, vor dem Abreiten die Hufeisen der Pferde zu untersuchen. Er schlug neue an, falls eines verloren gegangen war.
Als wir aufsaßen, fragte ich Terry, weshalb die alten Hufeisen, die er ausgewechselt hatte, liegenblieben. Sonst hatte er uns immer angehalten, alle Abfälle wieder einzusammeln oder – was sich verbrennen ließ – ins Lagerfeuer zu werfen. Sogar das, was jedes Wesen wieder
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