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Neugier und Übermut (German Edition)

Neugier und Übermut (German Edition)

Titel: Neugier und Übermut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Wickert
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es nicht wiedergefunden haben. Und ab Ende des Monats schneien die Pässe zu. Erst im Mai kommen wir wieder hierher. Tatsächlich haben wir es dann wiedergefunden. Es hatte sich einer Herde von Rotwild angeschlossen.«
    »Kommt es nicht vor«, frage ich ihn, »dass Pferde gestohlen werden? Wenn jemand eins fängt, ist er doch schnell über alle Berge.«
    »Niemand käme auf die Idee, ein Pferd zu stehlen!«
    »Weshalb nicht?«
    »Weil er das nicht überleben würde. Es gibt nur zwei, drei Pässe, die hier aus den Rocky Mountains hinausführen. Da weiß jeder Pferdedieb, dass ihm ein Unfall widerfahren würde. Und das würde jeder Sheriff absegnen.« Kurzer Prozess. Im Westen Amerikas denkt man noch biblisch, Auge um Auge, Zahn um Zahn, oder so ähnlich.
    Die gewaltigen Weiten, die wilde Natur und die Mentalität der wenigen Menschen in ihr entsprechen sich. Nichts wird begradigt oder befestigt.
    Da es kein künstliches Licht gab, gingen wir früh schlafen und standen mit der Sonne wieder auf. An einem Abend saß ich noch lange allein mit Terry am Feuer. Wir erzählten aus unseren völlig unterschiedlichen Leben. Ab und zu würde er mal für vierzehn Tage nach Florida in Urlaub fahren, sagte er, aber dann hätte er genug von den Menschen, von dem Massentrubel. Dann fragte er mich: »Wie bist du in Deutschland auf die Idee zu dem Ritt durch die Rocky Mountains gekommen?«
    »Ich bin vor Jahren nach Cody gereist«, antwortete ich, »auf der Suche nach dem Western. Ich wollte wissen, wie viel davon heute noch lebt.«
    Und dann fragte ich ihn, ob er etwa die Geschichte von Christopher John Boyce kenne?
    »Ja«, lachte Terry, »wie kommst du denn auf den? Der hat ja einige Jahre in den Rockys gelebt.«
    »Ich habe vor Jahren in dem New Yorker Kunstzentrum ›The Kitchen‹ eine abendfüllende Aufführung gesehen. Sie stand unter dem Motto: Amerika hat einen neuen Helden: Christopher John Boyce ist ein großartiger Amerikaner.«
    »Über sein Leben wurde sogar ein Hollywoodfilm gedreht mit Timothy Hutton in der Hauptrolle«, sagte Terry.
    Boyce war der Sohn eines FBI-Agenten, der als kleiner Wachmann einer großen Firma die Geheimcodes zu Amerikas Spionagesatelliten verwahren sollte, sie aber an die Sowjets verkaufte, bis er dabei erwischt wurde. Er hatte nämlich festgestellt, dass der amerikanische Geheimdienst CIA sich in die Wahlen in Australien einmischte, um den Sieg des Labor-Kandidaten zu verhindern. Das hielt er für ungerecht. Boyce wurde zu vierzig Jahren Haft verurteilt. Doch im Gefängnis sah er einen Film, der hieß »Flucht aus Alcatraz«, und genau nach dem Vorbild dieses Films floh er aus der Haft.
    »Er hat dann genau das Richtige getan«, sagte Terry. »Ich würde genauso handeln. Boyce wurde ja als Volksfeind Nummer eins auf Fahndungsplakaten bezeichnet und gesucht. Aber er hat sich einfach in die Rocky Mountains zurückgezogen. Er lebte in einer Blockhütte und keiner fragte nach seinem Vorleben. Er überfiel ab und zu eine Bank. Aber ließ sich nie auf Schießereien ein. Und er war sozial«, da lachte Terry kurz auf, »denn er überfiel nur Banken, die eine Versicherung für ihre Kunden hatten! Deshalb hat ihn nie jemand verraten.«
    »Wussten die Menschen denn, wer er war?«
    »Er hatte sogar eine Stammkneipe. Aber er war stets fair, hilfsbereit und höflich. Man mochte ihn. – Warum interessiert er dich?«
    »Ich habe vor fünfzehn Jahren einen Filmbericht über ihn gemacht, als er wieder gefasst worden war. Mich hat fasziniert, warum ihn lange Zeit niemand verpfiffen hat.«

    Boyce war es in den Bergen zu ruhig gewesen. Deshalb zog er an die Pazifikküste ganz oben an der Nordgrenze der USA im Staate Washington. Auf die Inseln vor Seattle. Er kaufte sich ein Fischerboot und fuhr mit Jerry Sullivan auf Lachsfischfang. Jerry und seine Frau Kay wussten nicht, wer Boyce wirklich war, wollten es aber auch nicht wissen.
    Aber selbst wenn sie gewusst hätten, dass er als »Volksverräter Nummer eins« gesucht wurde, hätten sie ihn nie verraten. Das sagten sie mir im Interview, als ich sie in ihrem Häuschen am Pazifik besuchte.
    »Freundschaft ist sehr, sehr wichtig«, sagte Kay Sullivan. »Man muss sich doch zumindest auf einen Freund verlassen können.«
    »Sie trauen der Justiz wohl nicht?«, fragte ich sie.
    »Nein, der traue ich nicht.«
    »Denken hier alle so?«
    »Es gibt eine Menge Leute«, sagte Jerry Sullivan, »die hier leben, weil man sich hier weniger in unser Leben einmischt als anderswo.

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