Neuigkeiten aus dem Paradies: Ansichten eines Sizilianers
immer). Zumindest käme sie in den Genuss eines außergewöhnlichen Erbes an Erinnerungen (von Geld reden wir lieber nicht: Da muss ich passen, wie man beim Kartenspielen sagt). Und der schillernde Reichtum der Erinnerung ist doch mit der dürren Armut alles Gegenwärtigen nicht zu vergleichen. Nun, langer Rede kurzer Sinn: Dieses Urteil überzeugt mich nicht, da ist der Wurm drin.
DIE JAHRESZEITEN HABEN KEINE MANIEREN MEHR
Früher – aber das ist schon sehr lange her – wussten sich die Jahreszeiten noch zu benehmen, sie schummelten nicht, spielten nicht verrückt, hielten sich gewissenhaft an jahrtausendealte Vereinbarungen mit dem Menschen. Nur einem einzigen Monat, dem verrückten März, erlaubten die Jahreszeiten, seinen Launen freien Lauf zu lassen, während dem April, den T. S. Eliot den »grausamsten Monat« nannte, in seinem Benehmen eine gewisse Ambivalenz zugestanden wurde. Bei uns in Sizilien lautete eine Bauernweisheit: aprìli nun livàri nun mintìri – im April zieh nichts aus und nichts an, es lohnte sich also weder, die Wintersachen abzulegen, noch sich wärmer anzuziehen. Ganz selten schlichen sich Ausnahmen in das konsequente Verhalten der Jahreszeiten, und diese Schwankungen waren nicht unbedingt schädlich, im Gegenteil: Wenn es beispielsweise im August regnete, freute sich der sizilianische Bauer: acqua d’agustu fa ogghiu, meli e mustu, Augustregen verhieß eine hervorragende Olivenernte, einen guten Wein, volle Honigwaben.
Jahrhundertelang lebten die Menschen ganz konkret und nicht nur metaphorisch mit dieser Bedeutung der Jahreszeiten: Die ganze Landwirtschaft basierte auf deren verlässlichem Wechsel. Schon im achten Jahrhundert vor Christus schrieb in Böotien ein weiser Bauer, der auch Poet war (solche gibt es noch immer), nämlich Hesiod, für seinen Bruder Perses ein kleines Lehrgedicht über die Landwirtschaft, das in Werke und Tage Eingang fand. Dieses Lehrgedicht sollte man den Jahreszeiten von heute mal zu lesen geben, dann stiege ihnen die Schamesröte ins Gesicht: Hesiod sagte beispielsweise, der Winter dauere sechzig Tage, keinen mehr und keinen weniger. Der Winter der vergangenen Jahre sollte also mal sein Gewissen prüfen, falls er eines hat, und uns sagen, ob er so sicher ist, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein.
Apropos korrekte Ankunfts- und Abreisezeiten, Klammer auf für eine Zwischenbemerkung: Kann sich überhaupt noch jemand an die Übergangszeiten erinnern? Ich will an dieser Stelle ihrer gedenken, damit jüngere Leute sie kennen lernen. Die Übergangszeiten waren eine höchst einfühlsame und höfliche Geste der Jahreszeiten: Um den Menschen den abrupten Übergang von heiß auf kalt und umgekehrt zu ersparen, schenkten sie ihnen eine kurze Zwischenjahreszeit, die sie auf die baldige Hitze oder die Kälte einstimmte. In dieser Zeit trug man Übergangskleidung, die nicht zu leicht und nicht zu warm war, und zog statt des Wintermantels den Staubmantel an. In meinem Schrank hängt noch immer ein nagelneuer, aber fünfzehn Jahre alter (man verzeihe mir den scheinbaren Widerspruch) Übergangsanzug. Ein paarmal habe ich ihn getragen, dann konnte ich ihn nicht mehr anziehen, weil die Übergangszeiten plötzlich verschwunden waren. Früher gab es ja auch das Ritual, an einem bestimmten Tag die warmen Sachen im Schrank zu verstauen und die leichten wieder in Gebrauch zu nehmen oder umgekehrt. Heutzutage will kein Mensch mehr seine Wintersachen komplett einmotten, weil mitten im heißesten Sommer plötzlich vierzehn Tage Polarkälte herrschen können. Klammer zu.
Zurück zu den anarchistischen Anwandlungen, die die Jahreszeiten ergriffen haben: Anscheinend sind sie es leid, die Schranken zu respektieren, in die sie jahrhundertelang verwiesen waren. Mit mathematischer und barometrischer Sicherheit war davon auszugehen, dass man bei einer Reise in den Norden Schnee vorfand und dass die Sonne schien, wenn man gen Süden fuhr. Von wegen! Der unbedachte Reisende (als solchen muss man ihn wohl bezeichnen), der sich in unseren Tagen möglicherweise nach Agrigent zum traditionellen Fest der Mandelblüte begeben hat, das früher den Frühling ankündigte (haha!), könnte die Überraschung erleben, dass die Bäume nicht nur von Mandelblüten, sondern auch vom Schnee weiß sind; unterwegs hätte er auch gesehen, dass sich der, wie eine Zeitung schreibt, »immer rote und rauchende« Stromboli in eine »gigantische Eistüte« verwandelt hat. Ein Tourist, der in
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