Neuland
Text.
Ihre und Doris Knie berührten sich unter dem kleinen Tisch. Unbeabsichtigt, doch keiner ging mit seinem Stuhl zurück.
Sie aßen ein zähes Steak, hart und dünn, mit einem brasilianischen Salat sin lechuga , ohne grünen Salat, denn der, so hatte Inbar Dori gewarnt, sei das Gemüse mit den meisten Bakterien.
Hör mal, begann er, ich erzähl dir die ganze Zeit von meiner Familie, und du erzählst mir überhaupt nichts.
Was gibt’s da zu erzählen?, schoss sie zurück. Ein kleiner Bruder, der sich beim Militär das Leben genommen hat, das heißt, vermutlich hat er sich das Leben genommen. Auf jeden Fall ist er tot. Ein Vater, der alles stehn und liegen ließ, sich nach Australien absetzte und mit sechzig mit einer anderen Frau noch ein Kind machte. Eine schöne, genervte Mutter, die in Berlin mit einem Deutschen, einem Millionär, zusammenlebt, aber de facto immer noch für ihren Sohn Schiv’a sitzt. Und ich, die Erstgeborene, die kein einzigesMal um ihren Bruder geweint hat. Weder bei der Beerdigung noch während der Schiv’a . Das Übliche eben, meinst du nicht?
Ein barfüßiger Junge mit einem Tablett voller Feuerzeuge trat an ihren Tisch. Sie kauften ihm zwei ab. Nur, damit er wieder ging.
Wann ist das passiert?, fragte Dori leise und ihr zugewandt. Ich meine, mit deinem Bruder.
Vor fünf Jahren.
Dann ist das der Tote, der in Inbars Bernstein gefangen ist, dachte er.
Und sie fügte hinzu, während sie ihr Feuerzeug an- und ausmachte: Wer behauptet, die Zeit heile Wunden, der lügt. Jetzt zum Beispiel tut es mir mehr weh als im ersten Jahr. Ich habe mich noch nie so nach ihm gesehnt wie in den letzten Wochen.
Bei mir ist es genauso, mit meiner Mutter, sagte Dori und fügte schnell hinzu (um ihr kein Zeichen zu geben, dass sie dieses Gespräch wieder auf ihn würde umlenken können), weißt du, Alfredo hatte da so eine Theorie, dass eine Reise zwei Dinge mit einem macht: Sie regt den Appetit an und die Erinnerung.
Ein kluger Mann, dieser Alfredo, sagte sie und spießte mit der Gabel ein paar Stückchen auf, die noch auf dem Teller lagen.
Dori rührte sein Essen nicht an. Und wie alt war dein Bruder, als er sich …
Neunzehn. Als Soldat.
Ja klar, dachte er ärgerlich, sie hat doch gesagt, dass es beim Militär passiert ist, wieso fragst du dann noch mal, wie alt er war.
Die ganzen jungen Leute, die hier rumreisen. Wenn er noch am Leben wäre … könnte er einer von ihnen sein. Vielleicht wären wir dann sogar zusammen unterwegs.
Wirklich? Ich meine … Geschwister sind doch sonst eher … aber …
Ob wir uns nahe waren? Er war Mamas Sohn und ich Papas Tochter. Aber irgendwie hat uns die Tatsache, dass wir in der Familie zu verschiedenen Koalitionen gehörten, nicht gehindert, uns lieb zu haben. Ich zumindest habe ihn sehr lieb gehabt.
Ich bin mir sicher, dass auch er …
Sicher weiß man gar nichts, Dori, sagte sie mit unterdrücktem Ärger in der Stimme. Weißt du, ich war mir sicher, dass ich meinen Bruder kenne. Aber nachdem das passiert ist … denke ich, vielleicht habe ich ihn überhaupt nicht gesehen, weil er mir zu nahe war, oder er hat mir gegenüber immer einen Pappkameraden aufgestellt, während sein wirkliches Ich sich woandershin zurückzog. Woher soll ich das wissen?
Dori schwieg etwas gescholten und dachte: Ja, wie soll man irgendwas über irgendwen wissen.
Jetzt eine Zigarette, das wär was, sagte Inbar und machte das Feuerzeug wieder an.
Du rauchst?
Nein, aber es gibt so Momente, da hast du einfach Lust auf eine Zigarette, oder?
Ja klar, stimmte Dori zu. Diesen Satz sagte auch Roni manchmal. Und er dachte, eigentlich sind sie gar nicht so unterschiedlich. Aber die Art, wie wir zusammenpassen, die ist ganz anders.
Iss doch was, sagte Inbar und zeigte auf seinen Teller. Du hast noch gar nichts angerührt.
Weil ich dir zuhöre.
Kannst du nicht zuhören und essen?
Nicht, wenn mir das Gespräch wichtig ist.
Ich weiß nicht, wie ich überhaupt auf das Thema gekommen bin. Sonst rede ich nicht über meinen Bruder.
Warum?
Ich habe Angst, dass man mich nicht versteht. Nicht so, wie ich verstanden werden will. Dass die Leute einen Schreck kriegen.
Einen Schreck?
Ja, dass sie plötzlich in so einem ernsten Ton mit mir reden, dass sie sich nicht mehr natürlich verhalten, wenn ich dabei bin. Dass sie mich bemitleiden. Schwör mir, dass das jetzt nicht passiert.
Er legte seine Hand auf die Speisekarte wie auf eine Bibel und sagte: Ich schwöre.
Dann iss jetzt, befahl
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