Neuland
ihre Hütte.
Er schickte einen Finger zu ihrem Haar, nahm eine Strähne, drehte sie immer und immer wieder um den Finger, viel zu lange, führte sie sich an die Nase, um daran zu riechen. Und ließ sie dann fallen.
Natürlich, Señorita Inbar, natürlich will ich, vielleicht will ich sogar viel zu sehr … das heißt … du und ich, das ist schon jetzt viel mehr als einfach … und gerade deswegen …, sagte er und rührte sich nicht von der Stelle. Verstehst du?
Ja, sagte sie. Und noch einmal: Ja. Sie drehte sich um, wollte weggehen, total verlegen, verdammt, jetzt hatte sie endlich einmal … Sag – er packte sie am Arm, ein bisschen zu fest –, ist es okay, wenn ich dich nachts ab und zu rufe?
Wie bitte?
Seit dem Essen habe ich so ein merkwürdiges Gefühl, als hätten sie uns dieses Kaktuskonzentrat in den Saft getan, das mein Vater mit dem Schamanen getrunken hat. Ich weiß nicht. Ich hab schon vorhin versucht, dir das zu sagen. Hier ist etwas, an diesem Ort … diese Hymne … die Wegnamen … die Art, wie mein Vater sich benimmt … bei dem Konzert gab es Momente, wo ich mir nicht mehr sicher war, ob ich an einem realen Ort bin oder ob ich visioniere.
Was heißt das?
Ach, lass. Ich hab achtundvierzig Stunden nicht geschlafen. Vielleicht red ich einfach nur Unsinn.
Gut.
Aber trotzdem. Würdest du antworten, wenn ich dich rufe?
Ja.
Danke, sagte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange, nahe den Lippen. Drehte sich dann um und ging zu seiner Hütte.
*
Und zehn Minuten später hörte sie ihn rufen: Inbar!
Ich bin da.
Und er schrie zurück: Danke!
Und gegen Morgen rief er wieder: Inbar!
Und sie antwortete: Hier!
Und er rief: Danke!
Und sie dachte: Scheiße, ich liebe ihn.
Dori
schlief erst gegen Morgen ein. In seinem Traum war Inbar eine Assistentin in Astronautik, die ihren Studenten an der Universität erklärte, statistisch sei eher anzunehmen, dass es auch auf anderen Planeten Leben gebe, als anzunehmen, es gebe nur auf der Erde Leben. Er war einer ihrer Studenten in diesem Kurs und ging nach der Vorlesung zu ihr und legte sie ohne ein Wort auf dem Tisch flach, so als wäre um sie herum nicht die ganze Klasse, er streifte vorsichtig das Haar aus ihrem Gesicht und küsste sie auf den Mund – er kostete sie mehr, als dass er sie küsste, und sie schmeckte wunderbar –, und dann wurde er plötzlich in den Jom-Kippur-Krieg geschickt, Generalmajor Gorodisch mit seiner dick gerahmten Brille brüllte ihn an, er sei ein Verräter, eine Schande für seine Familie, und befahl ihm den Abmarsch zum Suezkanal, und er marschierte in einer weiten, unendlichen Wüste, ohne Wasser in der Wasserflasche, und sang etwas vor sich hin, um die Einsamkeit zu vertreiben, ich komme aus der Nacht nach Haus / mach das Licht im Treppenhaus an, / nehm den hinterlegten Schlüssel, und meine Hand berührt, berührt nur flüchtig , aber irgendwann verstummte seine Stimme, und seine Lippen wurden rissig vor Trockenheit. Blut kam ihm statt der Wörter über die Lippen, er wusste, er musste eine Oase finden, er konnte nicht mehr, er musste sich gegen den Auftrag von Gorodisch auflehnen und irgendwo etwas Essbares auftreiben, sonst würde er noch sein eigenes Blut trinken. Es tropfte ihm schon in den Mund und schmeckte süß und sonderbar –
Als er aufwachte, den Blutgeschmack noch im Mund, wusste er einen Moment nicht, wo er war, erinnerte sich nicht, was diese Hütte, was dieser Tisch sollte und all diese Gedichte an den Wänden, und obwohl die Verwirrung nur wenige Sekunden anhielt und er sich wieder orientieren konnte, Neuland, Argentinien, Juli zweitausendsechs, hatte sie etwas Erschütterndes, und er stand auf, wusch sich das Gesicht und rief: Inbar!
Und kurz darauf noch einmal: Inbar!
Erst da bemerkte er, dass unter seiner Tür ein Zettel hindurchgeschoben war.
Guten Morgen, Dorinju, hatte sie geschrieben. Ich hoffe, Du bist irgendwann eingeschlafen. Ich will verstehen, was hier abgeht, deshalb bin ich ein bisschen auf der Farm spazieren gegangen. Außerdem hab ich den Eindruck, Du und Dein Vater, ihr braucht etwas Zeit zusammen, nicht wahr?
Bis bald,
Dein,
Inbar
Wie rücksichtsvoll von ihr, dachte er, sie ist wirklich wundervoll. Und er dachte, dieser Mann, von dem sie meint, ich bräuchte etwas Zeit mit ihm, das ist nicht wirklich mein Vater. Dennoch zog er sich an, putzte Zähne, um den Blutgeschmack aus dem Mund zu bekommen, und rasierte sich aufwendig, damit ihm, Gott behüte, nicht auch so ein
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