Neuland
versteht man es.
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Das Essen war wunderbar (vielleicht war sie auch einfach nur hungrig). Tomateneintopf mit verschiedenen Kräutern als Vorspeise, ein Assado-Steak mit Knishes als Hauptgang und zum Nachtisch ein Obstsalat aus Bananen, Orangen und Äpfeln. Zwei Krüge, einer mit Wasser und einer mit einem süßlichen Saft – Inbar genierte sich zu fragen, woraus er sei –, wurden in die Mitte gestellt, und wer wollte, nahm sich. Salz- und Pfefferstreuer wanderten von Hand zu Hand und flogen manchmal auch quer über den Tisch. Wer Nachschlag wollte, sagte es und bekam ihn. Alles war völlig normal, vertraut und doch auch fremd auf eine Art, die Inbar noch nicht genau benennen konnte. Es ist wie in den ersten Stunden im Sinai, dachte sie, du sitzt in der Gemeinschaftshütte und merkst, alle um dich herum bewegen sich nach einer inneren Musik, die du noch nicht hören kannst, weil du eben erst angekommen bist.
Das Essen hier ist gut, nicht wahr?, fragte Sara stolz, und sie nickte.
Dori, neben ihr, rührte fast nichts an. Er war bleich; sogar sein Adamsapfel hatte sich an diesem Abend zurückgezogen.
Hast du keinen Hunger?, fragte sie ihn und drückte unter dem Tisch ihr Bein an sein Bein.
Ich verdaue noch, antwortete er.
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Auch beim Auftritt der Klezmer beteiligte er sich zunächst nicht, doch dann stieg Sara die Bretter zu der improvisierten Bühne hinauf und flüsterte der Klarinettistin etwas ins Ohr, die es Jamili, dem Beachball-Cowboy, der jetzt Geige spielte, weiterflüsterte, und der erklärte, ohne dabei sein Spiel zu unterbrechen, im Publikum sitze ein Musiker, der nicht wisse, dass man in Neuland nichts anbrennen lasse, und er spornte die Anwesenden an, Do-ri, Do-ri zu rufen, und Dori blieb keine Wahl, als auf die Bühne zu steigen und sich einen Platz unter den Musikanten zu suchen.
Zuerst schlug er noch zögerlich auf die Handtrommeln, undInbar hatte den Eindruck, er sei mehr darauf bedacht, die anderen nicht zu stören, als selbst Musik zu machen, doch mit der Zeit wurde er freier, und sie bemerkte, dass er neben seiner Körpersprache, wenn er saß, und der Körpersprache, wenn er ging, noch eine dritte, wieder andere Körpersprache hatte, wenn er spielte, und die war einfach umwerfend. Sie beobachtete seine Hände, wie sie sich ballten oder öffneten, je nachdem, was für einen Klang er gerade hervorbringen wollte, wie sie weich oder hart wurden, je nachdem, mit welcher Kraft sie das Fell der Trommel treffen wollten, und sie stellte sich vor, zwischen den Schenkeln errötend, wie es sein würde, wenn diese Hände auf ihre Haut treffen, sich unter ihre Bluse schieben würden, in ihre Hose, poabwärts, ja, wovor sollte sie sich fürchten? Dass eine der vielen Frauen, die sie war, sich an ihn binden würde? Wem wollte sie da noch etwas vormachen? Sie war doch längst an ihn gebunden, wollte ihn doch schon längst für sich, für sich allein. Für sich allein. Für sich allein. Die Musik wurde rhythmischer. Die Klezmer spielten »Es gibt keinen anderen Ort« von Mashina und danach eine sehr energetische, beinah zornige Coverversion von »Man sagt, es gäbe ein Land, ein Land trunken von Sonne, doch wo ist dieses Land, wo ist diese Sonne« . Jamili zupfte die Geige wie eine Gitarre, Dori machte sich über die Trommeln her, und die Leute um Inbar herum begannen zu tanzen. Sara griff nach ihrer Hand, um sie dazuzuholen, doch sie wollte nicht und drückte sich beschämt an die Zeltwand.
Musik ist etwas Wunderbares, sagte Doris Vater, der neben ihr stand.
Sie nickte, ohne ihn anzuschauen.
In meinen Augen ist Musik die größte Errungenschaft des Ursprungslandes. Die ganzen inneren Spannungen, die dort die Gesellschaft vergiften, haben diese Musik so interessant gemacht. Und weißt du warum?
Es gelang ihr nicht, sich eine kluge Antwort zu überlegen; sie hatte das Gefühl, bei dieser Prüfung durchzufallen.
Weil man zuhören muss, antwortete er selbst. Musiker müssengemeinsam arbeiten, um etwas zu erschaffen, was größer ist als jeder Einzelne für sich. Deshalb ist Musikmachen hier in Neuland ein so zentraler Bestandteil; wir wollen daraus Grundsätze des Zuhörens und der Aufmerksamkeit ableiten.
Inbar nickte. Obwohl sie dem Gespräch gern eine eigene, persönliche Note hinzugefügt hätte, klebte ihre Zunge am Gaumen. Als hätte sie sich in den wenigen Stunden, die sie in Neuland war, bereits an der Ehrfurcht angesteckt, mit der alle hier Doris Vater begegneten.
Dorinjus Großvater war
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