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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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deinen Träumen.
    Ihre Großmutter wiegte den Kopf.
    Fima mit der Glatze. Inbar flehte sie geradezu an: Der Musikant, Omi, der mit dir auf dem Schiff war.
    Tut mir leid, sagte ihre Großmutter und verschränkte die Finger. Sie hatte keine Ahnung, von wem Inbar redete. Dann versank sie in sich vor Scham. So ist das in letzter Zeit, es kommt und geht, entschuldigte sie sich verlegen. Berührte mit dem Finger ihre Schläfe. So ist das, in letzter Zeit, es kommt und geht, sagte sie noch einmal, als habe sie vergessen, dass sie genau das eben schon gesagt hatte. Und dann sagte sie, mein Vater hat da gestanden, mit seiner Karakulmütze, auch mit Mütze war er noch klein; klein und sehr hübsch ist mein Vater gewesen, und ich bin nicht zu ihm hinausgegangen. Die ganze Nacht hat mein Vater vor dem Hotel gestanden, ich bin mir nicht sicher, ob er überhaupt einen Schirm dabeigehabt hat, und der Regen dort, der ist nicht wie hier, der Regen dort ist zornig, und ich bin nicht hinausgegangen –
    Nach langem Schweigen, das fast so lange währte wie das Exil des jüdischen Volkes, fügte sie mit bebender Stimme hinzu, ich habe Kurzschlüsse im Kopf, Inbari. Kannst du deine Großmutter nicht zur Reparatur bringen?
    Im Florentin-Viertel gab es viele Handwerker. Schuster, Schreiner, Glaser. Inbar streichelte schweigend die Hand ihrer Großmutter und dachte, man bräuchte auch einen, auf dessen Schild stand »Restauration verlorener Erinnerungen«.
    Ihre Mutter rief an. Alle würden zu Hause auf sie warten. Wann sie heimkommen würden?
    Gleich, versprach Inbar, gleich.
    Die Tische des Cafés füllten sich mit Leuten, die sich erinnern konnten. Immer mehr Kerzen wurden angezündet. Der ganze Raum kam Inbar plötzlich vor wie ein Trauerhaus, die Kerzen wie Seelenlichter.
    Die Kellnerin kam vorbei und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ja, antwortete sie, obwohl nichts in Ordnung war.
    Ihre Großmutter schloss die Augen.
    Bist du müde, Omi?, fragte sie. Sollen wir gehen?
    Er hat ein Kind, hast du gesagt, dein Geliebter hat ein Kind, sagte sie, machte plötzlich die Augen auf, als sei auf einen Schlag wieder Strom da.
    Ja, er hat einen Jungen, der ist vier.
    Und er hängt an seinem Kind? Denn es gibt auch Männer, die –
    Er hängt sehr an ihm.
    Dann ist es schade um dein Herz. Dieser Mann taugt nur zum Primus, Inbari.
    Primus?
    So nannte man den Dritten, den man im Kibbuz in die Wohnungen der Paare einquartiert hat.
    Und? Ich versteh dich nicht.
    Bleib mit ihm zusammen, Inbari, in deinen Gedanken, in deinen Fantasien und Träumen. Auch die sind Leben. Nicht nur, was wirklich passiert, sondern auch, was hätte passieren können.
    Aber –
    Was denkst du, Tsipke Fayer, dass du etwas so Besonderes bist? Schau dich um, jeder hier in diesem Café sitzt in diesem Moment in seinem Kopf an einem anderen Ort, mit jemand anderem. Neben jedem Paar im Kerzenschein sitzt noch ein Dritter, den einer von ihnen sich vorstellt, den einer von ihnen sich vorstellen muss, um hier sitzen bleiben zu können. Dieses Tel Aviv, in dem ihr lebt, wie könntet ihr diese Stadt ertragen, wenn ihr euch nicht die ganze Zeit eine andere, eine schönere Stadt vorstellen würdet? Und unser Land, was ist mit dem? Alles Juden, sie leben an einem Ort, aber im Kopf haben sie andere Orte, einen, von dem sie gekommen sind, und einen, an den sie sich am liebsten morgen schon absetzen würden. Ein Glück, dass sie diese Orte im Kopf haben, Tsipke Fayer, denn nur mit Gedanken und Fantasien über das Wandern kann man auf die wirkliche Wanderschaft verzichten. Und bleiben.
    Aber es ist so schwer, zu bleiben … und aufzugeben, sagte Inbar und seufzte wie ihre Großmutter.
    Zu bleiben, das beweist echten Mut. Und du gibst nicht wirklich etwas auf, Inbari, das versuche ich dir zu erklären.
    Aber was du sagst, genügt mir nicht. Mir einen Kuss vorstellen, das ist nicht wie ein Kuss. Und ich will einen echten Kuss, von ihm, viele Küsse. Ich will ihn haben, Omi. Ich habe noch nie einen Menschen so gewollt.
    Ihre Großmutter schwieg.
    Wut sammelte sich in Inbars Augen. Warum klappte es nie, warum? Warum war sie von dem, was sie wollte, immer wie durch ein Gitter getrennt? Warum machte sie immer, wenn sie es besser machen wollte, nur einen noch größeren Fehler, warum?
    Sie bat um die Rechnung, bezahlte, unterschrieb die Quittung der Kreditkarte. Sie drückte zu fest auf den Kuli, und das Papier zerriss. Verdammt.
    Sie verließen das Café und versuchten, die Straße zu

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