Neuland
Briefschreiber, die Leute kämen zu ihnen, und sie würden für sie die in der Regel offiziellen Briefe formulieren, aber man könne auch persönliche Briefe schreiben lassen. Soll ich dahin gehen, überlegt sich Dori, vielleicht schaffen sie es, für mich einen Brief an Roni zu schreiben, einen Brief, der mit »meine Geliebte« beginnt, und in dem ich dann mit klaren Worten alles sagen kann, was ich das letzte Jahr über gefühlt habe und nicht formulieren konnte, aber hier ist schon ein Stand mit erotischen Holzskulpturen, ein Mann und eine Frau aus Holz in unglaublich verschlungenen Positionen, die Männer haben alle Riesenschwänze, die Verkäuferin ist eine Zwergin und bietet Alfredo eine Halskette aus grünen Steinen an. Der handelt den Preis herunter und kauft sie zum Schluss doch nicht. Dori schaut nach, ob sein Pouch noch da ist, und guckt, ob es an dem Stand mit den illegal kopierten CDs auch westlicheMusik gibt, und findet ein Album von Bob Marley. Merkwürdig, kein einziges Stück, das er kennt. Ein Stand mit Hängematten verführt ihn, sich einen Moment hinzulegen; seit er aus Israel weg ist, schläft er immer noch nicht richtig, vielleicht ist er deshalb so auf Alfredo losgegangen. Der läuft jetzt neben ihm und sagt zu dem Hängemattenverkäufer Hola . Nur ein einziges Mal in ihrem Leben hat Roni in einer Hängematte gelegen, das eine Mal, als sie mit ihm nach Ras Al-Satan mitgefahren war, bevor sie konstatierte, dass dieses viele Fliegen wirklich nichts für sie sei. Komm, sagt Alfredo und zieht ihn aus der Hängematte und weg vom Gestank der Fischstände, hinter denen sich die Stände mit Elektrogeräten befinden – Mixer, Toaster, sie alle sehen kaputt aus, und Hunderte von Zauberwürfeln, sind die erst jetzt hier angekommen? Ich habe es noch nie geschafft, ihre Farben richtig zu ordnen, denkt Dori und sucht einen einfachen Wecker, es geht ja nicht, dass er auf dieser ganzen Reise immer die Leute an der Rezeption bitten muss, ihn zu wecken –
Und da entdeckt er die Uhr seines Vaters.
Im ersten Moment versteht er nicht, dass es die Uhr seines Vaters ist, wundert sich nur über die Qualität der Fälschung. Sieht fast aus wie eine echte goldene Uhr, sagt er sich. Und das Armband – wo haben die nur so ein breites Armband gefunden? Solche werden doch seit Jahren nicht mehr hergestellt. Doch dann, als er den Verkäufer bittet, sich das Stück aus der Nähe anschauen zu dürfen, entdeckt er die Gravur am Rand der Uhr: Für Meni, in Wertschätzung von den Freunden in der Brigade 162 .
Was, verdammt noch mal, macht Vaters Uhr hier?
Die entsetzlichsten Szenarios gehen ihm durch den Kopf.
Man hat seinen Vater umgebracht und ihm die Uhr abgenommen. Die Niere und die Uhr. Oder er musste die Uhr verkaufen, nachdem man ihm mit gezücktem Messer sein ganzes Geld geraubt hat.
Eine schöne Uhr. Von deinem Vater? Alfredo tritt zu ihm, noch nicht einmal einen Anflug von Entsetzen in seiner Stimme.
Alfredo kommt noch näher, näher als üblich. Solche werden heute nicht mehr produziert, sagt er, das ist ein echtes Kunstwerk.
Aber woher …
Höchstwahrscheinlich einfach Taschendiebe, sagt er mit ganz ruhiger Stimme. Jemand hat sich im Gedränge an deinen Vater herangemacht und sie ihm abgenommen, ohne dass er es überhaupt gemerkt hat. Dieser Markt ist voll von Taschendieben, Mister Dori, hast du das nicht im Lonely Planet gelesen?
Unsinn, sagt Dori, ist nicht bereit, seine Theorie des bewaffneten Überfalls so schnell aufzugeben, ich glaube nicht, dass man einem wachen Menschen einfach so die Uhr abnehmen kann.
Das glaubst du nicht, sagt Alfredo mit einem traurigen Lächeln, dann sag mir doch bitte, Mister Dori, wo ist denn deine Uhr?
Dori tastet mit der rechten Hand dorthin, wo sie sich befinden müsste, fühlt nur das nackte Handgelenk seiner linken Hand.
Auch ich habe so angefangen, sagt Alfredo und gibt ihm seine Uhr zurück. Diese ganze Gegend hier – er weist mit einer ausladenden Armbewegung auf ein großes Areal von Ständen – nennt man »Taschendieb-Markt«. Alles, was du hier siehst, ist im Grunde Diebesgut, das wieder verkauft wird. Manchmal an denselben Menschen, dem es geklaut wurde. Möchtest du die Uhr deines Vaters zurückkaufen?
Dori nickt, und Alfredo feilscht ein bisschen und ersteht sie zurück. Tu sie in deinen Pouch, damit man sie dir nicht auch klaut. Ich brauche noch ein paar Minuten mit dem Verkäufer. Ich werde klären, wie diese Uhr zu ihm gelangt ist, dann erfahren wir,
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