Neuland
wo dein Vater die Nacht verbracht hat, als er hier war. Wenn du hier bei mir bleibst, redet der Verkäufer vielleicht nicht. Vamos , lauf hier ein bisschen ohne mich herum, und dann treffen wir uns in zwanzig Minuten im Café Bolívar am anderen Ende des Platzes, okay?
Dori versucht, noch ein wenig zwischen den Ständen herumzuschlendern, doch der Markt, der ihm noch bis vor wenigen Minuten farbenfroh erschienen ist, kommt ihm nun elend und künstlich vor. Eine Vorstellung für Touristen mit ihren phallischenKameras. Warum verkaufen alle Maskenstände die gleichen Masken? Wo bleibt da die Originalität? Kein Wunder, dass die Händler so arm und runtergekommen sind. Sie besitzen keinerlei Initiative. Das hier ist gar keine Gelassenheit, es ist Faulheit, geradezu verbrecherische Faulheit. Und wie, verdammt noch mal, kommt man hier raus? Ein Weg und noch einer, und man hat den Eindruck, sie alle führen nur tiefer in das Gewirr der Stände hinein. Vielleicht hat auch sein Vater sich darin verloren, und zum Schluss haben sie ihm die Kleider ausgezogen, seine Schuhe und seine Unterhose. Wer weiß, was von ihm hier noch feilgeboten wird? Sein ergrautes Haar? Eine Niere? Sein Doktor Gav ? Und warum spielen sie jetzt ausgerechnet Bob Marley? Warum muss überall, wo es Hängematten gibt, auch eine CD von Bob Marley laufen? Es gibt nichts Nervenderes als Bob Marley, wenn du Angst um deinen Vater hast.
*
Er stellt seine Kaffeetasse auf den Tisch und hält die Uhr seines Vaters in der Hand, dreht sie hin und her, legt sie an, nimmt sie wieder ab. Vielleicht findet er einen Hinweis.
Dem wenigen nach zu schließen, was ihm bekannt ist, war diese Uhr schon vor dem Krieg im Besitz seines Vaters, doch ihre Funktion als Talisman hat sie erst im Krieg bekommen (wenn man bei ihnen zu Hause vom »Krieg« sprach, war klar, dass man den Jom-Kippur-Krieg meinte). Sein Vater hat nicht davon gesprochen, was damals im Sinai passiert ist. An Jom Kippur hat er sich immer in sein Arbeitszimmer eingeschlossen, und niemand durfte zu ihm hinein, außer Opa Fima, der mit seiner Mundharmonika zwei Stunden vor Ende des Fastens erschien. Ab und zu lief im Fernsehen ein Film über den Krieg, dann saß sein Vater gebannt davor, wie ein Falter vor dem Feuer, und seine Mutter setzte sich schnell zu ihm und nahm seine Hand, damit er nicht verbrannte. Im Wohnzimmer gab es ein ganzes Regalbrett mit Büchern über andere Helden dieses Krieges, wie Avigdor Kahalani oder Janosh Ben-Gal. Dorihatte sie in der verzweifelten Hoffnung gelesen, darin auch etwas über Hauptmann Meni Peleg zu finden, darüber, was seinem Vater passiert war, der nicht erzählte, wie er verletzt worden war, warum man ihn zum Helden erklärt hatte, oder warum er, wenn einer seiner Freunde aus der Brigade bei ihnen anrief, Mutter sein Zeichen machte – zwei Finger auf den Lippen, wie ein Raucher, der sich eine Zigarette zwischen die Lippen steckt – und warum sie dann in ihrer überzeugenden Stimme sagte, »Meni ist bei der Arbeit«. Auch die Geschichte von der Uhr wollte er nicht erzählen. Außer dem Satz, »Sie hat mich behütet, also hüte ich sie«, den er mal zu Mutter gesagt hatte, als sie sich über ein besonders teures Spray wunderte, das er gekauft hatte, um das Uhrglas zu reinigen, war es Dori nicht gelungen, weitere Informationen zu diesem Thema zu bekommen. Sein Vater nahm die Uhr nie ab. Nur zum Duschen. Er schlief mit ihr, stand mit ihr auf, ging mit ihr zur Arbeit, und wenn er am Strand war, ging er erst ins Wasser, nachdem er sie in einem Seidentuch in ein besonderes Täschchen gelegt hatte. Ab und zu ging das Uhrwerk kaputt, dann setzte er sich mit einem besonderen Set von Werkzeugen hin und rief Dori, um ihm zu zeigen, wie man sie reparierte. Jedes Mal versuchte Dori, sich genau zu merken, wie sein Vater die Werkzeuge wechselte, seine schnellen Handbewegungen und präzisen Erklärungen, doch gegen seinen Willen wanderten seine Gedanken bald zu einem Buch, das er in seinem Zimmer gelassen hatte, oder zu einem Mädchen aus der Klasse, in das er verliebt war; und wenn sein Vater fertig war, das Uhrgehäuse wieder schloss und sagte, »Nächstes Mal machst du das allein, okay?«, wussten sie beide bereits, dass Dori ihn beim nächsten Mal wieder bitten würde, es ihm noch einmal vorzumachen.
Dori hatte seinen Vater pausenlos enttäuscht. Damit, dass er nicht bei der Fußballjugend des HaPoel Yerushalayim geblieben war. Damit, dass er im Studium die Fächer Geschichte und
Weitere Kostenlose Bücher