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Neuland

Neuland

Titel: Neuland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eskhol Nevo
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du schon am ersten Schultag, dass das nicht so ist, denn dein Klassenlehrer kommt zwei Stunden zu spät. Sein Auto ist im Schlamm stecken geblieben, oder er hat einfach am Abend zuvor ein bisschen zu viel getrunken und ist nicht wach geworden. Und es ist gut, dass er nicht aufgewacht ist, denn damit bringt er seinen Schülern etwas Wichtiges bei: Die meiste Zeit eures Lebens werdet ihr warten. Also macht da kein großes Theater drum, eh ?
    Der Mister Dori lässt seine Schüler garantiert nie warten. Er bereitet seine Stunden bestimmt so vor, wie es sich gehört, und gibt Hausaufgaben auf, die schwer sind, aber nicht zu schwer. Er ist bestimmt auch seinem Sohn ein guter Vater. Und seiner Frau ein treuer Mann. Und er ist noch nie so hungrig gewesen, dass er gestohlen hätte. Vor der letzten Abfahrt nach Otavalo biete ich ihm eine Zigarette an. Aber nein, das war ja klar, er raucht nicht. Und trinken? Manchmal. Und Glücksspiel? Wo denkst du hin. Obwohl, im Grunde … einmal war da sowas.
    Erzähl, erzähl doch, habe ich ihn gedrängt. Vielleicht kommt er jetzt raus, der kleine Junge in ihm, der, der die Schulbank umgestoßen hat. Der, von dem Seela mir erzählt hat.
    Bevor ich geheiratet habe, erzählt er, haben meine Freunde für mich so einen Junggesellenabend gemacht. Wir sind nach Jericho ins Kasino gefahren. Heute gibt es das schon nicht mehr, das Kasino. Es wurde hochgejagt, bei einem der Kriege in meinem Land. Und, ehrlich gesagt, gibt es auch meine Freunde nicht mehr so richtig.
    Ja, und weiter …
    Ich habe ein paar Jetons gekauft, damit sie zufrieden sind, und hab sie beim Roulette alle auf die Vier gesetzt, das ist meine Glückszahl.
    Jetzt sage mir nicht, dass du gewonnen hast.
    Woher weißt du das?
    Das ist das Schlimmste, wenn man beim ersten Mal gewinnt.
    Danach konnte ich einfach nicht mehr aufhören. Man konnte dort auch Jetons per Kreditkarte kaufen. Und so habe ich gekauft und gekauft. Hatte schon zweitausend Dollar verjubelt und konnte einfach nicht mehr aufhören. Bis meine Freunde mich an den Armen gepackt und mit Gewalt dort rausgeschleift haben, auf den Parkplatz. Ich wollte nicht mit ihnen mitfahren. Ich habe getobt, habe versucht abzuhauen.
    Das ist die größte Weisheit im Leben, sage ich ihm: zu wissen, wann man aufhören muss. Die meisten Leute, die ich suche, haben nicht gewusst, wann man aufhören muss. Mit Drogen, mit Frauen, und wenn sie plötzlich keinen Weg mehr sahen, sind sie einfach immer tiefer in die Wildnis hineingegangen.
    Meinst du, das ist es, was meinem Vater passiert ist?, fragt er.
    Ich wusste, dass er das fragen würde. Kann sein, antworte ich,aber er ist ein erwachsener Mann. Vielleicht ist seine Geschichte auch anders.
    *
    Sie hätten sehen müssen, wie die Frauen ihn während der Trauerwoche umschwirrt haben, hatte Seela mir bei einem unserer letzten Telefongespräche erzählt. Zuvor hatte sie versucht, mit mir über den Paragraph Argentinien im Vertrag zu streiten. Was bedeutet es, dass Sie nicht verpflichtet sind, Dori selbst zu begleiten, falls seine Suche nach Argentinien führt?! Ach, keine Sorge, das steht in allen Verträgen, die ich abschließe. Da muss man nicht zu viel drüber reden. Take it or leave it, sagte ich. Aber warum denn? Das geht Sie nichts an. Ich dachte, wir wären offen zueinander, Alfredo. Das stimmt, Seela, wir sind offen zueinander. Erzählen Sie mir doch noch ein bisschen von Ihrem Vater. Sie sagten, er sei ein sehr schöner Mann.
    Hatte er etwas mit Frauen, nachdem Ihre Mutter gestorben ist?
    Nein, wie kommen Sie denn darauf?
    Warum sind Sie sich da so sicher?
    Er ist nicht … er ist nicht der Typ dazu. Das heißt, es gab eine Menge Frauen, die ihn haben wollten. Sie hätten sehen müssen, was da während der Schiv’a abging. Was ist Schiv’a ? Das ist die Art, wie Juden trauern. Man sitzt sieben Tage zu Hause, und die Leute kommen einen trösten und essen Borekas . Bei uns waren es nur sechs Tage, weil es meinem Vater gegen Ende der Trauerwoche gereicht hat. Die Frauen ließen den obersten Blusenknopf offen, wenn sie zu uns kamen. Verheiratete, Witwen, Ledige. Alle haben sich mit ihrem Ausschnitt vorgebeugt, haben die Bartstoppeln auf seiner Wange geküsst und sich auf den nächsten freien Stuhl neben ihn gesetzt. Zu nah. Aber dass da etwas passiert wäre – keine Chance. Als meine Mutter starb, stand er völlig unter Schock. Wissen Sie, Alfredo, die Leute benutzen immer dieses eine Wort »Liebe«, dabei gibt es auf der Welt so viele

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