Neuland
der Wand, verrückt das kleine Fernsehgerät. Er legt sich auf den Boden und schaut in der dunklen Höhle unter dem Bett nach, kriecht weiter herum, sucht nach losen Bodenplatten, verborgenen Knöpfen. Dann schnüffelt er im Zimmer herum, vielleicht ist irgendwo etwas vom Geruch seiner Pfeife hängen geblieben, die er sich anzündet, wenn er die innere Ruhe zum Nachdenken hat. Dori schnüffelt im Badezimmer, vielleicht ein Rest von dem Old Spice seines Vaters. Er zieht sämtliche Schubladen der Kommode unter dem Spiegel auf, und in einer liegt ein quadratisches Blatt Toilettenpapier. In der neunten Klasse hatte Tali Haran ihm auf einem Blatt Toilettenpapier geschrieben, er habe schöne Augen. Aber er war in Ruti Gadisch verliebt gewesen. Auf diesem Blatt steht nichts; er wirft es in die Toilette und spült. Er schiebt seine Finger in alle Falten des Badezimmervorhangs, schiebt diesen dann zurück und untersucht eine heruntergekommene Seifenschachtel hinter den Wasserhähnen. Eine Seifenschachtel, der ideale Ort, um eine Nachricht zu hinterlassen. Schnell nimmt er den Deckel ab, doch die Seifenschale ist leer. Noch nicht einmal Seife ist drin. Das ganze Zimmer ist leer, leer von der Präsenz seines Vaters. Vielleicht ist er auch überhaupt nie hier gewesen? Geschlagen setzt er sich aufs Bett. Vielleicht hat Edgar diese ganze Geschichte zusammen mit Alfredo erfunden? Vielleicht sollte er Alfredo zum Teufel jagen und das Außenministerium einschalten? Zum Teufel mit der Geheimnistuerei, sein Vater nimmt halluzinogene Drogen! Obwohl auch diese Information Teil des Märchens sein kann, das Edgar und Alfredo ihm auftischen, um an sein Geld zu kommen. Warum sollte Meni Peleg plötzlich Drogen nehmen?
Dori verspürt das dringende Bedürfnis, sein Orakel aus der Kobovi-Straße sechs zu befragen.
Doch seine Mutter lebt nicht mehr.
Sie hatte diese seltene Gabe gehabt, zuzuhören. Nur wenige Menschen hören wirklich zu. Viele bereiten in Gedanken schonihre Replik vor, noch bevor du zu Ende gesprochen hast – dabei kommen die wirklich wichtigen Dinge doch erst am Ende des Satzes. Andere lassen ihre Gedanken wandern, sie starren dich an, doch der Funke des Zuhörens ist schon erloschen. Und dann sind da die Hmmhmm-Sager, die dauernd nicken. Bei denen musst du einfach den Verdacht schöpfen, dass sie dir wie bei einem Museumsraub auf dem Überwachungs-Bildschirm immer wieder dasselbe Band vorspielen, während sie in Wirklichkeit an einem anderen Ort sind, der interessanter ist als dein Geplapper, und irgendeinen Picasso klauen.
Doris Mutter pflegte ihre Lesebrille abzunehmen und auf den Tisch zu legen, »weil dann alles, was drum herum ablenkt, ein bisschen verschwimmt und ich mich ganz auf den, der mir gegenübersitzt, konzentrieren kann«. Ihre Freundinnen sagten ihr immer, an ihr sei eine Psychologin verloren gegangen, und sie antwortete, so rum sei es ihr lieber, im Berufsleben die Hauptkuratorin des Museum Goldenes Zeitalter für mittelalterliche jüdische Kunst in Spanien zu sein, und den Menschen, die sie liebt, aus freien Stücken zuzuhören. Obwohl Dori sich nicht selten mit ihr beriet, kam sie ihm nie mit ihrer »reichen Lebenserfahrung« und begann auch nie einen Satz mit den Worten »als ich in deinem Alter war« oder »wenn du meine Meinung wissen willst«. Sie half ihm nur, das Unkraut zu jäten, seinen Zwiespalt richtig zu sehen und seine wahren Beweggründe zu erkennen. Als er sich zwischen Jurastudium und Geschichtsstudium entscheiden musste, half sie ihm zu sehen, dass alle Argumente für Jura Argumente der Angst waren (der Angst, ohne ein Einkommen zu bleiben, oder der Angst, den Halt in der Gegenwart zu verlieren), während alle Argumente für das Geschichtsstudium Argumente echter Begeisterung waren. Und als er im ersten Jahr nach Netas Geburt das Interesse am Unterrichten verlor, half sie ihm zu verstehen, dass er nicht plötzlich seiner Schüler überdrüssig war, sondern dass er vielmehr sein Vatersein so stark erlebte, dass alles andere dagegen verblasste. Wärst du eine Frau, hatte sie gesagt, würde sich keinerdarüber wundern. Dori und seine Mutter trafen sich im »Café«, das war ihr Codewort für die Küchenecke am Fenster, die sie mit einer Rigipsplatte abgetrennt und in Herbstfarben gestrichen hatte, damit sie wie ein Pariser Café aussah; sie hatte zwei Regalbretter angebracht, eins für die Bücher, die sie am meisten mochte, und das andere für neue Bücher (seine Mutter las mit solcher
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