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Neumond: Kriminalroman (German Edition)

Neumond: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Neumond: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Larcher
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kleinen, verqueren Hirn vor sich ging? Sie spürte, wie das nur allzubekannte Gefühl der Hilflosigkeit ihren Körper durchflutete. Wenn sie doch nur einmal in seinen Kopf schauen und in seine sonderbare Wahrnehmung eintauchen könnte. Sie würde alles dafür geben, um ihn nur einmal richtig verstehen und die Welt durch seine Augen sehen zu können. Aber das würde wohl nie möglich sein – es kam nicht von irgendwo, dass Autismus manchmal auch als Falscher-Planet-Syndrom bezeichnet wurde.
    Sie blinzelte eine Träne weg und strubbelte Patrick, ihrem Knirps vom anderen Stern, durch sein dichtes blondes Haar. Er war schon als kleines Kind anders gewesen: ruhig und abwesend, mit diesem für ihn so typischen verklärten Gesichtsausdruck.
    »Das wird sich schon geben. Sei doch froh, dass dein Kleiner so ruhig ist«, hatten die anderen Mütter gesagt und ihr Geschichten von aufgeschürften Knien, kaputten Fahrrädern und zerbrochenen Fensterscheiben erzählt. Doch es hatte sich nicht gegeben. Patrick war von Monat zu Monat immer mehr in seine eigene Welt abgedriftet, in die kein anderer Mensch vordringen konnte – einzig mit dem Erzählen von Märchen hatte sie stets seine Aufmerksamkeit gewinnen können. Sobald sie mit dem Satz ›Es war einmal‹ begann, fingen seine großen braunen Augen an zu leuchten und seine Haltung wurde aufrecht. »Noch eins, noch eins«, rief er stets, nachdem sie mit dem obligatorischen ›Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‹ geendet hatte. Anna Oberhausner genoss diese wenigen Momente, in denen ihr Sohn aktiv und aufgeweckt war, und stellte sich dabei manchmal vor, dass er ein ganz normales, gesundes Kind war. Doch das war er leider nicht. Patrick lebte zurückgezogen in seiner Märchenwelt, und sie – seine Mutter – hatte keinerlei Zugang dazu.
    Eigentlich sollte sie sich langsam an Patricks Macken und seine gelegentlichen Wutausbrüche gewöhnt haben, doch die beiden vergangenen Tage hatten sie ziemlich aus der Bahn geworfen. Die Anfälle waren diesmal anders gewesen als sonst: intensiver, lauter, verzweifelter. Noch nie hatte Patrick mit solcher Vehemenz und Lautstärke auf seinem Standpunkt beharrt. Sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte und eine Welle von Angst sie durchfuhr. Hoffentlich hatte das nichts zu bedeuten. Hoffentlich hatte seine Krankheit sich nicht verschlimmert. Hoffentlich wurde ihr ihr eigenes Kind nicht noch fremder.
    Frau Oberhausner atmete tief ein und blickte nach vorn, wo das St. Gröbner Sanatorium sich imposant und majästetisch vor ihr abzeichnete. Das Gebäude war riesig, und sein gerader, funktionaler Umriss bildete einen starken Kontrast zu den unruhigen, natürlich gewachsenen Formen der umliegenden Berge und des Waldes. Die klare Stahl- und Glaskonstruktion mit ihren perfekten Symmetrien wirkte wie ein steriler Fremdkörper, der sich in einer rauen Umgebung eingenistet und nun die Vorherrschaft übernommen hatte.
    Anna Oberhausner sinnierte: Was war Medizin denn sonst, als ein Eingriff des Menschen in die Natur, eine Weigerung der modernen Gesellschaft, dem Schicksal seinen freien Lauf zu lassen. In diesem Sinne hatte die Klinik die perfekte Form erhalten, und die absolut passenden Baustoffe waren verwendet worden.
    Sie wuschelte Patrick noch einmal durch die Haare und dachte an Dr. Bertoni, der schon seit Jahren der Arzt ihres Sohnes war. Bertoni war kompetent und einfühlsam. Wenn ein Mann in der Lage war, der Natur zu trotzen, dann war er es. Er würde ihr und ihrem Sohn hoffentlich helfen können.
     
    Mutter glaubte ihm nicht. Sie glaubte ihm nie. Patrick presste seine Stirn gegen die kühle Fensterscheibe und heftete seinen Blick auf den dichten, dunklen Wald draußen. Dort drinnen lebten sie – Geister, Trolle, Feen, Elfen und seit kurzem auch ein Tatzelwurm. Ein böser Tatzelwurm. Denn er musste es gewesen sein, der die Goldmarie getötet hatte.
    Mutter hatte nicht gewollt, dass er etwas davon mitbekam. Sie wollte nie, dass er schlimme Dinge erfuhr, damit er sich nicht aufregte. Aber er war nicht so jung und so dumm, wie sie immer meinte. Er hatte Augen und Ohren, und er hatte ein schlaues Gehirn.
    Die Leute in der Pension hatten darüber getuschelt, und Mutter hatte am Telefon darüber gesprochen – also hatte er sich einfach alles zusammenreimen können: Die nette Goldmarie war gestorben, in jener Neumondnacht, im Wald, als er den Tatzelwurm gesehen hatte. Es war das Ungeheuer, das wusste er

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