Neumond: Kriminalroman (German Edition)
bestenfalls erahnen konnte. »Spuren haben wir nicht gesichert – erstens gab es gar keine, und zweitens ist das Skelett ja nur ein armer Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg und kein Mordopfer.« Plötzlich schien Oliver etwas zu dämmern. »Oder etwa doch?«, stammelte er.
»Möglich wär’s.« Morell nahm die bereits fertigen Kopien von Olivers Schreibtisch und überflog sie. Es handelte sich dabei um die Aussagen der drei Teenager. Sie hatten den Bunker und das darinliegende Skelett entdeckt, als sie auf der Suche nach einem ›
ungestörten, wetterfesten Ort waren, um dort ein wenig Privatsphäre zu haben‹
las Morell und musste schmunzeln. Was für eine nette Umschreibung für: Saufen, Kiffen und Sex.
Er wartete noch eine gefühlte Stunde, bis Oliver endlich mit dem Kopieren fertig war. Dabei quasselte der junge Polizist so viel, dass Morell beinahe schwindelig wurde.
»So, bitte sehr.« Oliver reichte ihm die restlichen Blätter und setzte sich dann wieder an seinen Schreibtisch. »Wenn Sie noch mehr Kopien brauchen, müssen Sie es mir nur sagen – ich mache Ihnen gern welche.«
Morell unterdrückte eine zynische Bemerkung und machte sich auf den Weg zu Nina ins Archiv.
Das düstere Kämmerlein, das wahrscheinlich seit der Kaiserzeit keinen Putzlappen mehr gesehen hatte, als Archiv zu bezeichnen, war der Euphemismus des Jahres.
Morell schaute sich mit offenem Mund um – hier drinnen hatte man nicht annähernd das Gefühl, sich in einer Polizeiinspektion zu befinden, sondern eher in der privaten Rumpelkammer irgendeines sentimentalen Rentners. Wohin man auch sah, standen traurige, vergessene Dinge herum: ein kaputter Fußball, eine staubige Bierbank, ein kleiner Porzellanengel, dem ein Flügel fehlte, ein angeschlagener Blumentopf, ein Stapel vergammelter Zeitschriften, leere Getränkekisten und mittendrin die Skelettknochen. Morell, der die Unart hatte, Dinge zu personifizieren und in alle Sachen eine Art Seele zu projizieren, wurde ganz schwer ums Herz. »Geben wir der guten Frau ihre Identität zurück«, sagte er und schaute Nina erwartungsvoll an.
Diese ging nicht auf seinen Wunsch ein, sondern schimpfte munter wie ein Rohrspatz drauflos. »Dieser Danzer ist nicht nur völlig unerfahren, sondern auch ziemlich dreist. Lass dich von ihm ja nicht einspannen. Soweit kommt es noch, dass du seinen Job erledigst und deswegen aufs Skifahren verzichten musst.«
Morell, der hoffte, dass es ganz genau so kommen würde, nickte. »Keine Sorge – ich lass mich schon nicht ausnutzen.«
Nina bedachte ihn mit einem Augenrollen. »Ich kenne dich und deine Gutmütigkeit doch! Du bist und bleibst ein Gutmensch, der niemandem etwas abschlagen kann.«
»Erzähl doch lieber mal«, ignorierte Morell ihre Einwände. »Hast du schon was herausgefunden?«
»Ja«, kam Nina zum eigentlichen Thema zurück, »meine ersten Vermutungen haben sich bei näherer Untersuchung der Knochen, bei denen übrigens eine Hand fehlt, bestätigt. Es handelt sich um eine Frau Anfang 20 , die ungefähr 1 , 65 Meter groß war. Liegedauer des Skeletts 20 bis maximal 40 Jahre.«
»Sie muss also in den 70 er oder 80 er Jahren verschwunden sein«, folgerte Morell. »Ich werde die Informationen gleich an Danzer weitergeben, damit er die Vermisstenanzeigen von damals durchsehen kann. So viele einhändige Frauen wird es in der Kartei sicher nicht geben.«
»Wer weiß, ob ihr wirklich eine Hand gefehlt hat. Wahrscheinlich hat Danzer einfach nur geschlampt und die Knochen nicht komplett eingesammelt. Finger- und Handwurzelknochen sind recht klein, die kann man schon mal übersehen, wenn man nicht genau hinschaut.« Nina begann damit, die Knochen wieder vorsichtig zurück in die Kiste zu legen, als es an der Tür klopfte.
»Ja bitte?«, ließ Morell seinen sonoren Bass ertönen.
Oliver steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Frau Doktor, ich habe für Sie auch eine Kopie der Akten gemacht, weil man weiß ja nie, und vier Augen sehen mehr als zwei, und Sie sind ja sicher auch sehr versiert mit Mordfällen und so und weil doch …«
Nina musste sich zusammenreißen, um sich einen gemeinen Kommentar zu verkneifen. Was bildeten sich diese zwei Dorfsheriffs eigentlich ein? Nicht genug, dass sie einfach den gutmütigen Morell für ihre Zwecke einspannten, jetzt versuchten sie auch noch, sie mit ins Boot zu holen. Ungehalten stopfte sie die Unterlagen in ihre Jackentasche und ignorierte Oliver einfach. Dieser wandte sich an Morell.
»Frau
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