Neumond: Kriminalroman (German Edition)
weiblich. Seine Form ist kurz und breit, und der Schambeinwinkel ist weit und U-förmig. Bei einem Mann wäre das Becken hoch und eng, und der Schambeinwinkel wäre schmal und V-förmig.«
Danzer wollte Ninas Ausführungen offenbar nicht wahrhaben. Er schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte leise vor sich hin: »Nein, das kann doch nicht sein.«
»Doch, doch es kann«, entgegnete Nina und griff zur Untermauerung ihrer Worte nach dem Schädel. »Hier ist es auch gut zu erkennen. Die Stirn ist steil mit flachen Überaugenwülsten, die Kieferwinkel sind glatt, und die Augenhöhlen sind rund mit scharfen Rändern – das ist typisch weiblich.«
Danzer war offensichtlich nicht sehr angetan von diesen Erkenntnissen. »Mist, und ich dachte schon, ich hätte das Teil vom Tisch«, raunzte er. »Aber wie es aussieht, muss ich jetzt doch Ermittlungen deswegen einleiten.«
»Ganz sicher sogar.« Nina hielt Danzer den Unterkiefer vor die Nase. »Ich glaube nicht, dass die Frau im Krieg gestorben ist, denn sie kann gar nicht 60 Jahre oder länger tot sein. In einem ihrer Zähne befindet sich nämlich eine Kompositfüllung, und die gibt es erst seit den 70 er Jahren.«
»Verdammt. Das hätte mir auffallen können.« Danzer war seine Fehleinschätzung sichtlich peinlich.
»Und sehen Sie das?« Nina zeigte auf feine Risslinien am Schädel, die sich wie ein Spinnennetz über den Knochen zogen. »Das ist ein Globusbruch, entstanden durch direkte, stumpfe Gewalteinwirkung. Da die Schmutzablagerungen in den Rissen genauso ausgeprägt sind wie die auf dem Knochen selbst, kann man davon ausgehen, dass die Verletzung prae oder peri mortem entstanden ist. Kurz: Sie wurde wahrscheinlich erschlagen.«
»O nein.« Danzer massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Nasenwurzel. »Sie meinen, ich habe hier ein weibliches Mordopfer?« Er vergrub das Gesicht in den Händen. »Was mache ich denn jetzt?«
»Als erstes schauen Sie die Vermisstenmeldungen durch«, half Morell seinem offensichtlich völlig hilflosen Kollegen auf die Sprünge. »Sie müssen die Identität des Opfers kennen, damit Sie wissen, wo Sie mit den Ermittlungen ansetzen können.«
Danzer seufzte. »Und mir nichts, dir nichts habe ich meine erste Mordermittlung am Hals.« Er schaute Morell an. »Sie haben nicht zufällig Lust, mir ein bisschen zur Seite zu stehen? Ich habe wirklich keine Ahnung, wie ich das angehen soll.«
Morell lächelte – was hatte er gestern früh zu Bender gesagt? Lieber würde er an einem Mordfall arbeiten als Wintersport zu betreiben – es schien fast so, als wären seine Gebete erhört worden. Bei Danzer war es warm, gemütlich, und seine Frau backte tollen Kuchen. »Aber natürlich«, sagte er wohlwollend. »Ich werde Ihnen gerne ein wenig zur Hand gehen, solange ich in St. Gröben bin.«
Nina starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. »Aber was ist mit dem Skifahren? Hast du dich denn nicht auch so sehr darauf gefreut?«
Morell kratzte sich am Kopf. »Natürlich, aber ich kann einen Kollegen doch nicht einfach so hängen lassen.«
Die Gerichtsmedizinerin überlegte kurz und seufzte dann. »Und ich werde
dich
nicht hängenlassen. Für heute lohnt es sich für mich eh nicht mehr einen Skipass zu kaufen – ich werde euch bei der Identifizierung unterstützen. Gemeinsam können wir vielleicht heute so viel schaffen, dass Herr Danzer ab morgen alleine weitermachen kann. Dann kannst du deinen Skiurlaub doch noch genießen.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und warf Danzer einen missbilligenden Blick zu.
Morell setzte ein gequältes Lächeln auf. »Schaun wir mal.«
»Dann gehen wir’s doch gleich an.« Nina klatschte in die Hände.
Danzer, der die beiden mit großen Augen beobachtet hatte, grinste von einem Ohr zum anderen. Dieser Morell war ein Geschenk des Himmels! Wenn jeder unangenehme Fall gleich einen kostenlosen, kompetenten Ermittler mit sich bringen würde, wäre sein Arbeitsleben perfekt. »Frau Capelli, ich werde Ihnen im Archiv etwas Platz machen, damit Sie sich dort in Ruhe mit den Knochen beschäftigen können. Und Sie, Herr Morell, können sich von Oliver draußen alle wichtigen Unterlagen bezüglich des Skelettfundes kopieren lassen. Ich werde mich in der Zwischenzeit um ein bisschen Papierkram kümmern.« Er schielte auf seine Zeitung und grinste wieder.
7
Anna Oberhausner betrachtete ihren Sohn, der neben ihr auf dem Beifahrersitz saß und stumm aus dem Fenster starrte. Was wohl gerade in seinem
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