Neumond: Kriminalroman (German Edition)
alles wieder gut.«
Danzer strich über seinen Schnurrbart und musterte Morell verstohlen. Wie lange wollte der Landauer Chefinspektor nochmal in St. Gröben bleiben? Eine Woche? Das war nicht viel Zeit – er musste die verbleibenden Tage also gut nutzen. Wenn Morell nämlich abreiste, saß er hier ganz allein und hatte neben Oliver auch noch zwei Mordfälle an der Backe. »Also dann, gehen wir es an!«, rief er und schlug sich auf die Oberschenkel. »Womit wollen wir beginnen?«
»Also, ich beginne damit, ins Hotel zu fahren, meine Sachen auszupacken und dann eine Runde zu relaxen«, sagte Nina bestimmt. »Immerhin sind wir im Urlaub.« Sie stieß Morell mit dem Ellenbogen sachte in die Rippen. »Nicht wahr?«
Morell tat so, als hätte er ihre Bemerkung nicht gehört. »Am besten beginnen wir damit, eine Liste mit Verdächtigen zu machen«, sagte er an Danzer und Frau Jäger gewandt. Dann drehte er sich zu Nina. »Geh du ruhig schon mal vor und genieß die nette Pension samt Pool. Vielen Dank für deine Hilfe.« Er begleitete die Gerichtsmedizinerin bis zur Tür.
»Und was ist mit dir?«, flüsterte sie ihm dort zu. »Lass dir doch hiervon bitte nicht den Urlaub ruinieren.«
»Keine Bange«, sagte Morell, schob Nina sanft nach draußen, schloss die Tür und murmelte: »Ich sorge gerade dafür, dass dieser Urlaub halbwegs erträglich wird.«
9
Als Anna Oberhausner mit ihrem Sohn die Klinik betrat, musste sie sich zusammenreißen, um nicht von der bedrückenden Stille, die darin herrschte, überwältigt zu werden. In den langen, geraden Gängen, in denen es stets streng nach Desinfektionsmitteln roch, lag eine solch intensive Traurigkeit in der Luft, dass man sie beinahe greifen konnte. Das Krankenhaus war an sich schon kein sonderlich fröhlicher Ort, doch heute war die vorherrschende Tristesse noch intensiver zu spüren als an anderen Tagen.
Einige Schwestern hasteten mit dem Blick auf den Boden gerichtet an ihnen vorbei, und auch die Patienten, die in den Fluren auf- und abgingen, schienen heute noch kränker zu sein als sonst. Frau Oberhausner hatte das Gefühl, dass eine unsichtbare Hand so fest auf ihre Brust drückte, dass ihr beinahe die Luft wegblieb. Lag es an ihr selbst oder an der Stimmung in der Klinik? Sie atmete langsam ein und wieder aus, nahm Patrick an der Hand und ging zur Rezeption.
Hinter dem weißen Tresen stand eine hagere Schwester, in deren Gesicht dieselbe professionelle Distanziertheit lag, wie sie bei Bestattern oder Polizisten oft zu finden war. Sie nickte der Mutter und ihrem Sohn flüchtig zu, und für den Bruchteil einer Sekunde durchdrang der Hauch eines Vorwurfs ihr kühles Gehabe. »Der Herr Doktor wartet bereits auf Sie.«
Frau Oberhausner ließ die Hand ihres Sohnes kurz los, um aus ihrer Handtasche die Sozialversicherungskarte zu holen, und erntete dafür von ihm einen verunsicherten Blick. »Schon gut«, sagte sie schnell und strubbelte Patrick durchs Haar.
Die beiden folgten der Schwester in ein Untersuchungszimmer, wo der erste Lichtblick des Tages auf sie wartete: Dr. Bertoni, ein kleiner Mann mit der typischen dunklen Attraktivität der Südländer und dem dazu passenden schwungvollen Temperament, kam mit einem strahlenden Lächeln und offenen Armen auf sie zu. »Da ist ja mein Lieblingspatient«, sagte er und zwinkerte.
Frau Oberhausner, für die Bertonis offene Art Balsam auf die Seele war, streckte dem Arzt ihre Hand entgegen. »Danke, dass Sie so schnell Zeit für uns gefunden haben. Ich weiß, wie beschäftigt Sie normalerweise sind.«
Bertoni nahm ihre Hand, drückte sie und warf dann einen besorgten Blick auf Patrick, der sich auf einen Stuhl gesetzt hatte und wie hypnotisiert die bunten Bilder an der Wand studierte. »Kein Thema, Frau Oberhausner. Ihr Anruf klang ja wirklich dringend.« Er ging vor Patrick in die Hocke und musterte das Kind. »Du hast also einen Tatzelwurm gesehen«, stellte er fest, zog eine kleine Lampe aus der Brusttasche seines Kittels und leuchtete Patrick damit erst in das rechte und anschließend in das linke Auge.
Der Junge ließ die Prozedur widerstandslos über sich ergehen und nickte stumm.
»Und das hat dich natürlich sehr aufgeregt«, sprach der Arzt in seinem sonoren Bass weiter, nahm das Stethoskop, das er um den Hals trug, und hörte Patricks Herz ab. »Um ehrlich zu sein, hätte mich das auch sehr aufgeregt. Man sieht nicht alle Tage einen Tatzelwurm.« Er lächelte den Jungen an und wandte sich an die Mutter.
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