Neumond: Kriminalroman (German Edition)
»Also auf den ersten Blick wirkt Ihr Sohn ganz normal.«
»Heute ist er ganz ruhig«, seufzte sie, »aber Sie hätten ihn in den letzten Tagen erleben sollen. Er hatte einen Wutanfall nach dem nächsten, und zwar viel intensiver als sonst. Sind Sie sicher, dass sich sein Zustand nicht verschlechtert hat?«
»Er hat die Goldmarie umgebracht«, unterbrach Patrick das Gespräch der Erwachsenen mit seiner piepsigen Kinderstimme.
Bertoni tätschelte den Kopf des Jungen. »Ist ja gut«, sagte er und wandte sich dann wieder an die Mutter. »Wie Sie ja wissen, reagiert Patrick sehr sensibel auf seine Umwelt – er hat sicher einige Gespräche bei Ihnen im Hotel über …«, er zögerte, »… über den Vorfall mitangehört und sich dann in etwas hineingesteigert. Solche Themen sind nichts für Kinder – schon gar nicht für welche wie Patrick.« Er schenkte ihr einen tadelnden Blick. »Halten Sie ihn bitte ab sofort fern vom Gerede der Leute.«
Anna Oberhausner schaute ihn verzweifelt an. »Ich habe versucht, ihn zu schützen, aber ich kann ja auch nicht 24 Stunden am Tag auf ihn aufpassen. Seit Tobias uns verlassen hat und ich mich ganz allein um den Jungen und die Pension kümmern muss …« Ihre Augen begannen feucht zu glänzen.
»Schon in Ordnung. Ich verstehe Sie ja.« Bertoni sprang auf und reichte ihr ein Taschentuch. »Holen Sie sich doch im Schwesternzimmer einen Tee – der wird Ihren Nerven gut tun. Ich mache so lange noch ein paar abschließende Untersuchungen mit Patrick – nur um ganz sicher zu gehen. Sie können ihn in fünf Minuten wieder hier abholen.«
Frau Oberhausner nickte dankbar und verschwand auf den Flur.
»Nun gut, kleiner Mann.« Bertoni wandte sich an Patrick. »Dann gönnen wir deiner Mutter eine kleine Auszeit und messen solange deinen Blutdruck und überprüfen die Reflexe.«
Patrick nickte und streckte dem Arzt wortlos seinen Arm entgegen, damit dieser die Manschette des Messgeräts anlegen konnte.
»Erzähl doch mal«, versuchte Bertoni, den Jungen zum Reden zu bringen. »Wie sah er denn aus, der Tatzelwurm? Wenn ich ihn nämlich da draußen im Wald sehe, kann ich ihn einfangen und dafür bestrafen, dass er dir so einen Schreck eingejagt hat.« Er las den Blutdruck ab und machte eine Notiz in der Krankenakte.
Patrick schüttelte den Kopf. »Dafür ist er viel zu groß und stark.« Er breitete seine Arme aus. »Der Tatzelwurm ist mindestens fünfmal so lang, aus seinen Augen kommt Feuer, und er bewegt sich ganz schnell und fast lautlos.«
Dr. Bertoni wartete, ob Patrick noch mehr sagte, aber der Junge schwieg und studierte erneut die Bilder an der Wand. »Ist gut, dann schauen wir uns doch mal deine Reflexe an«, sagte der Arzt, der die eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit seines kleinen Patienten bereits zur Genüge kannte. Nachdem die Prozedur erledigt war, nickte er zufrieden und kratzte sich am Kinn. »Soweit scheint ja alles in bester Ordnung zu sein.« Er tastete noch den Schädel des Jungen ab, was Patrick ohne Anstände über sich ergehen ließ.
Gerade als Dr. Bertoni damit beginnen wollte, die Krankenakte auszufüllen, klopfte es an der Tür und Frau Oberhausner kam zurück ins Untersuchungszimmer. In ihrer Hand hielt sie eine Tasse dampfenden Tee.
»Sie kommen genau richtig. Ich bin gerade mit der Untersuchung fertig geworden. Geht’s bei Ihnen wieder?« Bertoni lächelte.
Sie lächelte matt zurück. »Ja, danke. Die letzten Tage waren einfach etwas zu anstrengend für mich – kann sein, dass ich ein bisschen überreagiert habe.«
Bertoni nickte wissend. »Patrick ist körperlich topfit. Ich werde ihm ein leichtes Beruhigungsmittel verschreiben. Das wird ihm gut tun.«
»Und Sie sind sicher, dass mit ihm alles in Ordnung ist?«
»Ganz sicher. Er hat sich einfach nur von der Hysterie anstecken lassen, die wegen des Vorfalls gerade herrscht. Halten Sie ihn von dem Thema fern. Sie werden sehen – in ein paar Tagen ist er wieder ganz der Alte.«
Frau Oberhausner bedankte sich und trank ein paar Schlückchen Tee. Nachdem sie das Rezept erhalten hatte, verabschiedete sie sich und nahm Patrick an der Hand. »Komm!«, sagte sie zu ihm. »Wir gehen jetzt nach Hause und vergessen diesen blöden Tatzelwurm.«
Patrick sagte nichts. ›Ich werde dir beweisen, dass es die Bestie wirklich gibt‹, dachte er. ›Dir, Doktor Bertoni und all den anderen.‹
10
»So, Frau Jäger, dann wollen wir mal eine Liste mit potentiellen Tätern zusammenstellen.«
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