Neumond: Kriminalroman (German Edition)
ausgespuckt hatte. Was Männer anging, hatte ihr Selbstbewusstsein einen kleinen Knacks, den sie trotz aller Mühen nicht schaffte abzulegen. Die Vergangenheit hatte ihr da einfach zu sehr zugesetzt: Sie war nun mal eine Frau, deren Reize sich erst auf den zweiten oder gar dritten Blick offenbarten, und nachdem so gut wie jeder Kerl bei der Erwähnung ihres Jobs Reißaus genommen hatte, kam kaum einer soweit, diesen zweiten oder dritten Blick zu tätigen. Die Gerichtsmedizinerin hatte sich bereits damit abgefunden, den Rest ihres Lebens als Single zu verbringen, als der attraktive Leander in ihr Leben getreten war und ihr Herz im Sturm erobert hatte. Seitdem musste sie sich häufig zusammenreißen, um in der Beziehung nicht ständig nach einem Haken zu suchen.
»Was ist denn mit deinem Koffer los?«, konnte sie sich nicht verkneifen zu fragen, als Leander aus der Dusche kam. »Ich dachte, ich tue dir einen Gefallen und räume deine Sachen in den Schrank, aber der Koffer war abgeschlossen.«
»Echt?« Leander rubbelte sich die Haare mit einem Handtuch trocken. »Vielleicht hat ja nur das Schloss geklemmt.«
»Nein, der Koffer ist abgeschlossen«, insistierte sie.
Er runzelte die Stirn. »Na, dann werde ich ihn wohl aus Versehen abgeschlossen haben.« Er schnappte sich die Klamotten von der Stuhllehne und zog sie an.
Nina spürte, wie eine Welle von Misstrauen und Argwohn sie umspülte. Irgendetwas stimmte nicht. Ihr Freund war normalerweise nicht so ausweichend. Zudem hatte er ihr nicht in die Augen geschaut, und der Tonfall in seiner Stimme war anders als sonst. Die Erkenntnis durchfuhr sie wie ein glühend heißes Eisen: Leander hatte ihr gerade schamlos ins Gesicht gelogen. Aber warum? Was war in dem Koffer, das sie nicht sehen sollte? Welche Geheimnisse hatte er vor ihr? Das Zimmer wirkte plötzlich klein und beengt, ihr Magen krampfte sich unangenehm zusammen, und tausend schreckliche Erkenntnisse schossen ihr durch den Kopf: In den letzten Wochen waren da diese komischen Anrufe gewesen, bei denen Leander plötzlich das Zimmer verlassen hatte. Er war mehrfach zu spät nach Hause gekommen und hatte nie wirklich eine gute Erklärung dafür gehabt. Und da waren diese komischen Blicke gewesen, die er ihr hier und da geschenkt hatte. So als würde er sie mustern.
»Was hast du vor?«, fragte sie ihn, als er nach seinen Schuhen griff.
»Ach, ich muss nur schnell auf einen Sprung ins Dorf. Bin gleich wieder da.«
Nina setzte sich auf. »Klingt gut. Gib mir fünf Minuten, dann komm ich mit.«
»Ach nein«, winkte Leander ab. »Entspann dich lieber noch ein bisschen. Ich mach auch ganz schnell.« Er hatte schon die Tür geöffnet.
Ninas Misstrauen wuchs mit jeder Sekunde. »Was brauchst du denn so dringend aus dem Dorf? Kann das nicht warten? Wir haben uns die ganze Woche kaum gesehn«, versuchte sie ihn aufzuhalten.
»Ich hab ein paar Sachen in Wien vergessen. Zahnbürste und so. Du kennst mich doch.« Er lächelte verlegen und zeigte auf seinen Kopf. »Alter Schussel.«
»Ich brauche aber gar keine Ruhe mehr«, schmollte sie und stand auf.
»Zahnbürste kaufen ist total langweilig. Geh doch lieber ein bisschen spazieren. Die Umgebung hier ist wunderschön – das wird dir gefallen. Bis gleich!« Mit diesen Worten schloss er die Tür hinter sich und ließ die verdutzte Nina einfach stehen.
14
Patrick saß auf seinem Bett und spuckte die Tabletten, die ihm seine Mutter gegeben hatte, in die Hand. Dann stand er auf und ließ den klebrigen Klumpen unter der Matratze verschwinden. Ständig gaben Mutter und Dr. Bertoni ihm irgendwelche Pillen zu schlucken, von denen er meist müde und ganz wuschig im Kopf wurde. Sie taten das, weil sie ihm nicht glaubten, weil sie dachten, er sei verrückt – aber die würden sich noch wundern. Seine Welt war genauso real wie die ihre, und bald würden sie das nicht mehr leugnen können.
Er schob den Vorhang beiseite und schielte zum Fenster hinaus: Jetzt, am helllichten Tag, wirkte alles so ruhig und harmlos – aber er ließ sich nicht täuschen. Er kannte alle Geheimnisse, die sich in dem Wald verbargen. Man durfte sich von dem schönen Schein nicht täuschen lassen. Es hausten grausige Kreaturen zwischen den Bäumen. Da gab es zum Beispiel einige Gnome, den bösen Wolf, den Tatzelwurm und eine alte Hexe, der man besser aus dem Weg ging.
Patrick legte sich auf den Boden und robbte langsam unters Bett. Ganz hinten an der Wand hatte er seine geheime Schachtel
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