Neumond: Kriminalroman (German Edition)
verabschieden, nach draußen.
»Ach je«, hustete Gruber. »Die hat wohl wieder mal einen schlechten Tag. Dann ist sie immer so leicht reizbar. Spielen wir halt zu zweit weiter.«
»Um ehrlich zu sein, habe ich auch keine Lust mehr.« Frau Hanauer zupfte erneut an ihrer Decke herum und rollte dann ein paar Schritte nach hinten. »Ich brauche ein bisschen Ruhe. Auf Wiedersehen, Herr Inspektor.«
»Aber«, versuchte Frau Gruber, die immer noch halb am Ersticken war, sie aufzuhalten.
»Warten Sie!«, rief Morell ihr nach. »Ich bringe Sie in Ihr Zimmer.« Er erhob sich und starrte auf Frau Gruber, deren Teint an einen blauen Fleck erinnerte. »Sollten wir nicht einen Arzt rufen? Oder zumindest eine Krankenschwester?«, fragte er laut.
»Das legt sich gleich wieder«, rief Frau Hanauer von draußen.
»Sicher?« Morell schaute zu ihr auf den Flur hinaus.
Sie nickte. »Sie waren doch schon einmal dabei. In weniger als einer Minute wird sie wieder schimpfen und fluchen.«
»Na gut.« Er folgte der alten Dame den Gang entlang und schnappte sich die Handgriffe ihres Rollstuhls.
»Lassen Sie! Das geht schon«, beschwerte sie sich. »Ich bin noch nicht ganz so gebrechlich, wie ich vielleicht wirke.«
»Ich wollte nur höflich sein. Sie sind in Zimmer 316 , oder?«
»Sie haben Ihre Hausaufgaben also gemacht, Herr Inspektor.«
»Chefinspektor, um genau zu sein.«
Frau Hanauers Zimmer war ein Einzelzimmer, das auf den ersten Blick den Eindruck vermittelte, man sei in einem Hotel: Es gab einen Tisch, zwei gepolsterte Stühle und einen kleinen Fernseher. An den Wänden hingen gerahmte Holzschnitte, und in der Ecke stand sogar eine Topfpflanze.
Bei näherer Betrachtung konnte aber nichts darüber hinwegtäuschen, dass es sich um ein Krankenzimmer handelte. Der Boden war mit reinigungsaffinem Holzlaminat ausgelegt, über dem Bett befand sich ein dreieckiger Haltegriff, und kein Raumspray der Welt hätte den typischen Geruch nach Desinfektionsmitteln übertünchen können. Dazu kam, dass sämtliche Einrichtungsgegenstände diese spezielle Aura von Tristesse versprühten, die jene Dinge umgab, die irgendwie allen, aber gleichzeitig auch niemandem gehörten.
»Gemütlich haben Sie’s hier.«
Hanauer ignorierte die Floskel und bot Morell einen Stuhl an. »Was kann ich für Sie tun? Ich gehe mal davon aus, dass Sie nicht mit mir aufs Zimmer gekommen sind, weil Sie die Einrichtung studieren oder mir Avancen machen wollten.«
Morell musste grinsen. »Stimmt. Ich wollte Sie eigentlich nur kurz etwas fragen. Unter vier Augen.« Er setzte sich und überlegte, wieviel eine Nacht hier drinnen wohl kostete. Und wie wohl das Essen schmeckte? Die Schwarzwälderkirschtorte, die er mit Schwester Elvira gegessen hatte, war jedenfalls schon mal einwandfrei gewesen. »Es geht um Frau Hölzel«, sagte er. »Kann es sein, dass sie sich vor Frau Gruber gefürchtet hat?«
»Wer fürchtet sich nicht vor ihr?« Sie zeigte auf eine Flasche Mineralwasser, die auf dem Nachttischkästchen neben ihrem Bett stand. »Wasser?«
Morell nickte und wollte aufstehen, doch die alte Dame hielt ihn zurück. »Ich kann das schon alleine.«
»Wie haben Sie das eben gemeint?«
Frau Hanauer stellte die Flasche und zwei Gläser, die sie in ihrem Schoß transportiert hatte, auf den Tisch. »Elisabeth ist ein Trampel. Ständig macht sie unpassende Bemerkungen.« Sie schenkte ein. »An manchen Tagen, wenn sie so richtig in Fahrt ist, da ist sie wirklich zum Fürchten.«
Morell nickte. Er konnte sich gut vorstellen, dass Frau Gruber mit ihrer Art öfters aneckte.
Die alte Dame nahm einen Schluck Mineralwasser und rollte das Glas anschließend zwischen ihren Handflächen hin und her. »Es ist auch so schon schwer genug hier drinnen«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Morell. »Da braucht man nicht auch noch jemanden, der einen ständig daran erinnert, dass diese Welt kein perfekter Ort ist. Für Elisabeth mag diese Form von Galgenhumor funktionieren. Für andere tut sie das nicht.« Ihre sonst so steinerne Fassade hatte gerade ein paar Risse bekommen. Die Gouvernanten-Miene weichte auf, ihre Gesichtsmuskeln erschlafften.
»Darf ich fragen, warum Sie hier sind?«
Ihre knochigen Finger umklammerten das Glas, und sie starrte auf die kleinen Bläschen, die aus dem Nichts entstanden und unaufhörlich an die Wasseroberfläche drängten, um dort zu verpuffen. »Ach. Alles und nichts. Seit einem Oberschenkelhalsbruch vor ein paar Jahren kann ich nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher