Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
Klausuren saßen alle Schüler an leicht versetzten Einzeltischen, damit die Lehrer jeden im Auge hatten.
Rouben saß ganz links in der hintersten Reihe. Er hielt den Kopf gesenkt und den Blick starr auf seinen Unterarm gerichtet, der vor ihm auf dem Tisch lag, als ob er gar nicht zu ihm gehörte. Die Konturen seines Gesichts waren knochig, und seine Lippen wirkten blutleer. Rouben trug einen schwarzen Rollkragenpullover, dessen Ärmelsäume bis weit über die Handgelenke ragten. Seine Haut war so weiß und durchscheinend wie mit Wasser verdünnte Milch.
Am liebsten wäre Jolin sofort zu ihm gegangen, aber leider stand MrTurner bereits hinter dem Pult und tippte ungeduldig mit seinen Fingern auf der Klausurenmappe herum.
»Schließen Sie bitte die Tür hinter sich«, sagte er und wartete, bis Jolin sich auf dem einzigen noch freien Platz niedergelassen hatte.
Sie sah nur noch einmal zu Rouben hin. MrTurner war gerade an ihm vorbeigegangen und hatte ein Aufgabenblatt auf seinen Tisch gelegt, da hob Rouben seinen Blick genau in ihre Augen. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf, und Jolin wandte sich sofort wieder ab und versuchte, sich auf die Klausur zu konzentrieren.
Interpretationen von Kurzgeschichten lagen ihr. Der Text war verständlich, und sie musste nur einige wenige Vokabeln nachschlagen, so dass sie schließlich gut zehn Minuten vor der Zeit mit allem fertig war. Doch anstatt ihre Arbeit abzugeben und den Raum zu verlassen, blieb Jolin noch eine Weile sitzen und richtete ihren Blick so oft wie möglich auf Rouben, der noch immer in die Klausur vertieft war. Du musst mir endlich sagen, was mit dir vorgeht, dachte sie. Ich habe ein Recht darauf, es zu erfahren. Auf gar keinen Fall wollte sie die Gelegenheit verpassen, mit Rouben zu reden.
Kurz vor dem Ende der Stunde packte Jolin leise ihre Sachen zusammen und schlüpfte auf den Gang hinaus. Es dauerte nicht lange und Leonhart folgte. Er hatte den Reißverschluss seines Sweaters hochgezogen und rubbelte sich fröstelnd über die Oberarme. »Mensch, das ist ja saukalt da drinnen.«
Jolin zuckte die Achseln. »Ist mir gar nicht aufgefallen«, log sie.
Leo grinste. »Hast dich wohl heißgeschrieben, was?«
»Nein, ich habe an Rouben gedacht«, erwiderte sie schlicht.
Leonharts Miene verfinsterte sich. »Er sieht aus wie ein Geist.«
»Ja.« Jolin nickte. »Er arbeitet zu viel und schläft zu wenig. Aber leider hört er nicht auf mich.«
»Mit mir hättest du nicht solche Probleme.«
»Mit dir hätte ich andere«, gab sie zurück.
Leo lehnte sich mit der Schulter gegen die Wand, kreuzte seine Füße und sah sie durchdringend an. Jolin fühlte sich unbehaglich, schaffte es aber irgendwie, seinem Blick nicht auszuweichen.
»Schon gut«, sagte er nach einer Weile. »Ich lass dich damit in Ruhe. Gegen Liebe ist man eben machtlos. Niemand weiß das besser als ich.« Für einen Moment legte sich ein schmachtender Zug um seine Augen, dann grinste er. »Aber ich werde drüber wegkommen. Du bist mir nämlich viel zu wichtig, Jolin. Ich würde unsere Freundschaft niemals aufs Spiel setzen.«
»Ich danke dir«, sagte sie und zwang sich zu einem Lächeln. Angespannt fixierte sie die Tür des Klausurenraums, die sich in dieser Sekunde öffnete.
Rouben kam heraus. Er blieb kurz stehen und nickte ihnen zu. »Leo … Jolin, wir sehen uns später«, sagte er mit kehliger Stimme, dann ging er hastig weiter.
Jolin wirbelte herum. »Nein! Jetzt warte doch mal!«, rief sie und rannte ihm hinterher.
Natürlich reagierte er nicht, sondern lief rasend schnell den Gang entlang, und als Jolin die Pausenhalle erreichte, hatte sie ihn bereits verloren.
Fluchend drehte sie sich einmal um sich selbst und stürzte dann auf den Ausgang zu. Kurz bevor sie ihn erreichte, stutzte sie. Die Temperatur hatte sich geändert. Mit einem Schlag war es sehr viel wärmer geworden.
»Na, warte«, murmelte sie, drehte sich um und ging langsam in die Pausenhalle zurück.
Nach fünf Schritten hatte die Kälte sie wieder. Jolin folgte ihr bis zur Treppe und stieg hinab in den Naturwissenschaftlichen Trakt. Sie vermutete Rouben im Bioraum, der sich dem Hörsaal anschloss und aus dem auch Vincent sich wahrscheinlich schon einmal Blutkonserven besorgt hatte.
Jolin zwang sich, nicht weiter darüber nachzudenken. Zuerst musste sie Rouben finden. Sie würde ihn danach fragen, und er würde sie verdammt nochmal nicht anlügen – DÜRFEN!
Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In weniger
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