Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
ihrem inneren Auge ab, in denen Väter ihren unerwünschten Schwiegersöhnen in spe beträchtliche Geldsummen anboten, damit diese sich von ihren Töchtern fernhielten. Wenn die Wahrheit nicht so viel entsetzlicher gewesen wäre, hätte Jolin über dieses Verhalten nur den Kopf schütteln können. Aber wie sollte sie ihren Eltern erklären, dass der Junge, den sie über alles liebte, sich gerade in einen Vampir verwandelte? Nein, sie musste nicht nur ihre ganze Kraft daransetzen, Rouben zu schützen, sondern auch Paula und Gunnar davon abhalten, sich immer tiefer in diese Geschichte hineinzusteigern. Und das würde ihr nur gelingen, wenn sie sich so normal wie nur irgend möglich verhielt.
»Tschüs, Pa!«, rief sie. »Bis heute Abend!«, und dann war sie auch schon aus der Tür.
Während sie die Treppen hinuntereilte, holte sie ihr Handy hervor und checkte den Ausgangsspeicher. Die SMS an Rouben befand sich noch immer darin. Jolin versuchte ein weiteres Mal, sie zu versenden – mit dem gleichen Ergebnis wie in der Nacht zuvor. Der Empfang war gut, von daher konnte sie sich dieses Phänomen nur damit erklären, dass Rouben sein Handy zerstört hatte … Oder – Jolin stockte das Herz, und ein heißkalter Schauer des Entsetzens rieselte durch ihre Brust – sich gar nicht mehr in ihrer Welt befand.
Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte«, wisperte sie. »Bitte, bitte nicht!«
Auf puddingweichen Beinen stakste sie weiter, erreichte das Erdgeschoss und sah durch das geriffelte Glas, dass dort draußen vor der Haustür jemand stand. Die aufflammende Hoffnung wurde in Keim erstickt. Es konnte nicht Rouben sein, das sah sie sofort, dafür war die Person zu klein. Außerdem hatte sie lange Haare. Locken.
Jolin wischte sich über die Augen und atmete einmal tief durch, dann öffnete sie die Tür.
»Wow!«, begrüßte Anna sie. »Das nenn ich Telepathie! Ich hab noch nicht mal den Finger auf der Klingel gehabt, und trotzdem …«
»Was machst du denn schon hier?«, fiel Jolin ihr erstaunt ins Wort.
Anna zuckte mit den Schultern. »Dich abholen, nehme ich an.«
»Ja, aber wieso?«
»Jetzt freu dich doch erst mal«, schmollte Anna. »Immerhin haben wir uns seit der Infoveranstaltung nicht mehr gesehen.«
Jolin nickte. Tatsächlich war Anna entgegen ihrer Absicht am Samstagabend nicht mehr vorbeigekommen, weil sie zu müde gewesen war. Stattdessen hatten sie nur noch kurz miteinander telefoniert.
»Außerdem gibt es tolle Nachrichten«, fuhr Anna fort, legte der Freundin ihren Arm um die Schultern und drückte sie an sich.
»Aha?« Jolin küsste sie flüchtig auf die Wange und machte sich wieder los.
»Ja, stell dir vor!«, quiekte Anna. »Wir haben über zweitausend Euro gesammelt! Dafür können wir tonnenweise Farbe und Blumen kaufen!«
»Und deshalb bist du extra früher losgegangen? Nur um mir das zu erzählen?« Jolin schüttelte den Kopf. »Warum hast du nicht einfach angerufen?«
»Hab ich ja versucht«, sagte Anna. »Es war aber die ganze Zeit über besetzt.«
Jolin krauste die Stirn. Kann gar nicht sein, wollte sie erwidern, aber dann kam ihr in den Sinn, dass Paula das Telefon mit ins Schlafzimmer genommen haben könnte. Vielleicht hatte sie von dort aus ein Gespräch geführt, während Gunnar und sie selbst in der Küche saßen und frühstückten.
»Außerdem hat Rouben mir eine SMS geschickt«, setzte Anna hinzu.
»Was?« Jolins Herz galoppierte los. »Wann?«
»Empfangen habe ich sie vor zehn Minuten. Da war ich gerade in der U-Bahn-Station. Ich hatte nämlich vor, eine Bahn früher zu nehmen … wie sonst auch.«
»Was hat er dir denn geschrieben?«
Anna schob die Hand in ihre Jackentasche. »Willst du’s lesen?«
Jolin nickte. »Klar.« Sie hätte jubeln und mit der Freundin die Straße hinunter bis zur U-Bahn tanzen können! Rouben war noch hier! Noch war nicht alles verloren!
Sie war dermaßen aus dem Häuschen, dass sie für einen Moment sogar das abscheuliche Verbrechen in der Containersiedlung vergaß.
»Hier.« Anna hatte inzwischen ihr Handy hervorgezogen und auf den Tasten herumgedrückt. Jetzt hielt sie es Jolin vor die Nase.
bitte hol jolin ab!
lass sie nicht aus den augen.
es ist wichtig.
danke!
rouben
»Ganz schön abgedreht, der Gute«, meinte Anna grinsend. Wieder umschlang sie Jolin und zog sie von der Haustür auf den Bürgersteig. »Hast du eine Idee, was das zu bedeuten hat?«
»Ach … na ja … er macht ständig solche verrückten Sachen«,
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