Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
als drei Minuten würde es zur Pause läuten, sie musste sich also beeilen.
Hinter der Tür zum Hörsaal vernahm sie die gedämpfte Stimme von Frau Dallmer, die ausschließlich in Sekundarstufe eins unterrichtete. Die hagere Lehrerin mit den streichholzkurzen Haaren war als ziemlich hysterisch verschrien, garantiert würde sie einen Anfall kriegen, wenn Jolin scheinbar grundlos in ihre Stunde platzte. Also lief sie weiter, peilte die Tür zum Nebenraum an und stellte überrascht fest, dass sich die Kälte hier schlagartig verlor.
Jolin blieb wie angewurzelt stehen, und mit einem Mal wusste sie, wo er war. In der Bibliothek!
Von dort aus konnte er nämlich, wenn er Glück hatte, und die Toiletten geöffnet waren, durchs Fenster klettern und auf den Schülerparkplatz fliehen.
Jolin raste zurück und stieß die hölzerne Doppeltür mit dem Glasfenster auf, die sich direkt gegenüber dem Treppenaufgang befand und in der Regel nur angelehnt war, und hastete zwischen den Regalen entlang.
»Hallo?«, hörte sie die Bibliothekarin rufen. »Möchten Sie auf die Toilette?«
»Ähm, ja …« Jolin reckte den Hals und erkannte den hellblonden Schopf der Angestellten hinter dem Tresen.
»Tut mir leid, ich darf Ihnen den Schlüssel nicht geben. Sie sollen die offiziellen WCs benutzen.« Frau Wieshaupt deutete zur Decke. »Befehl von oben. Das habe ich dem jungen Mann eben übrigens auch schon gesagt. Er müsste Ihnen eigentlich entgegengekommen sein.«
Jolin schaltete auf der Stelle. So schnell sie konnte, rannte sie zum Ausgang zurück, und ausnahmsweise war sie einmal schneller als Rouben. Keuchend postierte sie sich vor der Tür und zischte:
»Du hörst mir jetzt zu!«
Reflexartig wich er zurück und stieß gegen ein Regal.
»Du kannst nicht einfach alles über meinen Kopf hinweg entscheiden!«
Rouben schluckte. Angst saß in seinem Blick. Angst – und Ekel.
»Lass mich in Ruhe!«, fuhr er sie an.
»Das geht nicht, Rouben«, sagte Jolin. Zögernd machte sie einen Schritt auf ihn zu. »Hast du meine SMS von heute Morgen gelesen?«
Er nickte, während seine Augen unruhig hin und her wanderten und nach einer Fluchtmöglichkeit suchten.
»Das war ich nicht«, keuchte er. »Ich war vor eurem Haus, aber ich bin immer vorsichtig gewesen. Deine Mutter kann mich unmöglich gesehen haben.«
»Aber dann …« musste es Vincent gewesen sein!
Wieder nickte Rouben, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Jolin zwang sich zu atmen und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu. »Warum bist du heute hier?«, fragte sie. »Doch nicht nur, um die Klausur zu schreiben …«
»Nein, ich wollte ausprobieren, wie viel Tageslicht ich noch vertrage.«
Jolins Herzschlag geriet ins Stolpern. »Und?«, fragte sie tonlos.
»Ich bin mir nicht sicher.« Rouben sah zu den Fenstern hinüber, die sich an einer der beiden Außenwände direkt unterhalb der Decke wie eine Kette aus länglichen Glassteinen aneinanderreihten. »Es zieht Regen auf. Vielleicht habe ich Glück.«
»Glück?«, hauchte Jolin. Ein schmerzhafter Druck baute sich unter ihrem Rippenbogen auf. »Bitte, Rouben …«
»Hör endlich auf, dir etwas vorzumachen!«, fuhr er zischend dazwischen. »Ich bin kein Mensch mehr. Du solltest nicht in meiner Nähe sein!«
» Du … bist … in die Schule … gekommen«, begann Jolin stockend. » Du hast dich in meine Nähe begeben, du hättest wissen müssen, dass ich dich nicht kommentarlos gehen lassen kann. Wenn ich jetzt in Gefahr bin, ist es ganz allein deine Schuld.«
Rouben öffnete die Lippen und stieß ein Knurren hervor. Seine Zähne blitzten gefährlich, und die schwarzen Augen funkelten in einer Mischung aus Wut und Gier. Wenn er Jolin nicht so vertraut gewesen wäre, wäre ihr spätestens jetzt der Angstschweiß ausgebrochen.
»Es tut mir leid, aber die einzige Erklärung dafür, dass du heute hier bist, ist für mich die, dass du mich noch immer liebst«, sagte sie leise.
Rouben knurrte abermals. Er drückte sich am Regal entlang weiter zurück und stieß mit seinem Ellenbogen gegen einen großen Bildband, der ein paar Zentimeter hervorstand. Ein ganzer Stapel Bücher kippte zur Seite, eins nach dem anderen fiel polternd zu Boden.
»Alles in Ordnung bei euch?«, ertönte die Stimme der Bibliothekarin vom Buchungstresen herüber.
»Ja, ja!«, rief Jolin hastig. »Es ist nichts passiert. Den Büchern geht es gut.« Sie fasste sich ein Herz, sprang auf Rouben zu und schnappte nach seinem Handgelenk, doch
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