Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
noch ehe ich mich in irgendeiner Weise dagegen wehren kann, hat er bereits seine Zähne in meinen Hals geschlagen.
»Du lieber Himmel, Jol, was ist passiert?«
Anna stand nur den Bruchteil eines Augenblicks auf der Schwelle des Krankenzimmers, dann stürzte sie bereits auf Jolin zu und ließ sich neben sie auf die Kante der blassgrünen Couch fallen, die Direktor Rudloff der Schule gespendet hatte. Das war ungefähr ein Vierteljahrhundert her, und es wurde allgemein vermutet, dass er das durchgelegene und leicht muffig riechende Teil damals aus dem Sperrmüll gefischt hatte.
»Nichts«, sagte Jolin schlapp. Sie sah die Freundin nicht an, sondern hielt den Blick zur Decke gerichtet. Ihre Augen brannten, und in ihrer Brust, dort wo sie eigentlich ihren Herzschlag hätte spüren müssen, befand sich nun ein schwarzes Loch.
»Nichts?« Anna schüttelte den Kopf. »Die halbe Schule weiß, dass du heulend in der Bibliothek zusammengebrochen bist. Aber wahrscheinlich wolltest du damit nur deine Schauspielkünste zum Besten geben und der armen Frau Wieshaupt einen gehörigen Schrecken einjagen. Was dir übrigens auch gelungen ist«, fügte sie unter leisem Schnauben hinzu.
»Bitte.« Jolin griff nach Annas Armen, zog sich daran hoch und sah ihrer Freundin in die Augen. »Bring mich nach Hause. Dann erzähl ich dir alles.«
»Versprochen?«
Jolin nickte.
»Und auch wirklich alles ?«
»Versprochen.«
»Okay«, sagte Anna. »Lass mich überlegen.« Sie kratzte sich am Kinn und warf einen unschlüssigen Blick zur Tür. »Das Problem ist nämlich, dass der Römer bereits im Anmarsch ist.«
Jolin verdrehte die Augen. »Oh nein!«
»Tja«, sagte Anna, »damit hättest du rechnen müssen.«
Der Schulpsychologe Remus Karlstedt alias der Römer betreute mehrere Einrichtungen, und bisher waren seine Dienste vom Albert-Schweitzer-Gymnasium nicht allzu häufig in Anspruch genommen worden. Man konnte also nicht unbedingt davon ausgehen, dass er sich leicht abwimmeln ließ.
»Ich bin doch völlig okay«, sagte Jolin. Sie schob sich an Anna vorbei, setzte ihre Füße auf den Boden und sah die Freundin flehend an. »Und wenn du ihm einfach sagen würdest, ich hätte Liebeskummer, weil mein Freund gerade Schluss gemacht hat?«
»Das hat er doch aber nicht wirklich, oder?«, rief Anna erschrocken.
Jolin stützte sich auf deren Schulter ab und hob sich in den Stand. Noch immer war sie sich unschlüssig, wie viel Wahrheit sie der Freundin überhaupt zumuten konnte, oder präziser ausgedrückt: wollte.
»Na ja, zumindest nicht freiwillig«, sagte sie schließlich und angelte mit den Zehen nach ihren Stiefeletten, die Frau Landner, die Sekretärin, ihr eine halbe Stunde zuvor ausgezogen und unter die Couch geschoben hatte. Anna bückte sich, ergriff die Schuhe und platzierte sie direkt vor Jolins Füßen.
»Mann, du machst es aber echt spannend«, brummte sie.
»Mir wäre es anders auch lieber, das kannst du mir glauben«, sagte Jolin.
Anna hob sofort die Hände. »Unbesehen. Auch wenn ich im Moment noch nicht wirklich im Bilde bin.«
Jolin seufzte leise. Sie hätte sich in den Hintern beißen können dafür, dass sie nach Roubens Verschwinden nicht einmal zwei Minuten lang die Kontrolle über ihre Gefühle behalten und sich sinnigerweise vor ihrem hysterischen Zusammenbruch aus der Bibliothek verdrückt hatte. Dann nämlich wäre sie Frau Wieshaupt nicht in die Fänge geraten, die zunächst in eine Art Schockstarre gefallen war und sie anschließend total hektisch vom Scheitel bis zu den Zehen auf Knochenbrüche und andere Verletzungen abgesucht hatte. Nachdem die Bibliotheksangestellte einen »negativen Befund« diagnostiziert hatte, hatte sie Jolin hinter den Tresen geschleppt, ihr eine Tasse Tee gekocht und wie eine Beknackte auf sie eingeredet. Wenn Jolin jetzt den Beistand eines Psychologen nötig hätte, dann ganz allein deswegen.
»Komm, lass uns sehen, dass wir rauskommen«, sagte sie, beugte sich hinunter, um die Reißverschlüsse an den Stiefelinnenseiten hochzuziehen, und geriet ins Schwanken, als sie danach ein wenig zu schnell wieder hochkam.
»Uuups!«, rief Anna und legte blitzschnell die Arme um sie.
Im selben Moment wurde die Tür geöffnet, und das spitze Gesicht vom Remus Karlstedt lugte herein. Er musterte die Mädchen kopfschüttelnd, dann trat er ins Zimmer und schloss die Tür lächelnd hinter sich.
»Es ist schön, dass du deiner Freundin Beistand geleistet hast«, sagte er zu Anna. »Du kannst
Weitere Kostenlose Bücher