Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
während sie sich unaufhörlich im Kreis drehte. Das Ungewisse machte sie verrückt, und je irrsinniger sie sich nach außen hin verhielt, umso besser glaubte sie den Irrsinn in ihrem Inneren kontrollieren zu können.
»He, was machst du denn da?«, hörte sie Anna wispern, im nächsten Moment umfingen sie bereits die warmen weichen Arme ihrer Freundin. Jolin hielt in der Bewegung inne, ließ die Hände sinken und schmiegte sich rücklings gegen Annas Körper. Durch das Fenster sah sie den Mond, der hoch über den Dächern der gegenüberliegenden Häuser stand. Es fehlte nur noch ein Hauch, und er würde rund und voll sein.
Morgen, dachte Jolin, und in ihrer Brust schnürte sich alles zusammen. Aber wenigstens wusste sie jetzt, was sie zu tun hatte.
Jolin wartete bis kurz nach sechs, dann weckte sie Anna, die nachts im Gegensatz zu ihr sehr schnell wieder eingeschlafen war. Jolin hatte die ganze Zeit über wach gelegen, inzwischen konnte sie fast nicht mehr sagen, die wievielte Nacht der letzten Wochen es war, in der sie kein oder kaum ein Auge zubekommen hatte.
Sie schlüpfte aus dem Bett und zog eine Jeans, die blaue Bluse und einen hellen Kapuzenpulli aus dem Schrank.
»Was dagegen, wenn ich zuerst dusche?«
Anna streckte die Arme über ihrem Kopf aus, grunzte leise und schüttelte den Kopf.
»Ich beeil mich auch«, versprach Jolin, und das tat sie wirklich. Einseifen, Shampoonieren, abtrocknen, all das ging ihr in Lichtgeschwindigkeit von der Hand. Noch unerträglicher, als allein in ihrem Zimmer zu sein, war für sie der Gedanke, dass Anna dort ohne sie war, ganz besonders heute. Bis die Morgendämmerung einsetzte, würde es noch eine Weile dauern, und dass an diesem Tag tatsächlich Vollmond war, davon hatte Jolin sich längst durch einen Blick auf ihren Wandkalender vergewissert. Und so hastete sie nach nur fünf Minuten Abwesenheit mit Handtuch, Bürste, Föhn und Cremedose ins Zimmer zurück.
Anna war inzwischen aufgestanden, hatte Kissen und Decke aufgeschüttelt und den Quiltüberwurf darübergebreitet.
»Mann, das ging ja blitzartig«, sagte sie grinsend.
Jolin zuckte die Achseln. »Man weiß nie, wann Paula oder Gunnar aufstehen, und mich eincremen und mir die Haare machen, kann ich genauso gut hier.«
»Okay, dann beeil ich mich auch«, sagte Anna, drückte der Freundin einen Kuss aufs Haar und zischte ab.
Jolin tupfte sich ein paar vergessene Tropfen von der Haut, rubbelte ihre Haare trocken und bürstete sie durch. Und während sie das tat, überlegte sie, wie sie Anna dazu bringen konnte, allein mit Klarisse zu reden. Garantiert würde die Freundin sich mit aller Vehemenz gegen einen solchen Vorschlag wehren, was Jolin ihr nicht verübelte, im Gegenteil, in der umgekehrten Situation würde sie an ihrer Stelle sicher ebenso reagieren. Jolin seufzte leise. Wahrscheinlich blieb ihr am Ende eh nichts anderes übrig, als sich klammheimlich davonzustehlen.
Um Viertel nach sieben verließen sie die Wohnung. Nach dem Ankleiden hatten sie Gunnar in der Küche angetroffen, der mit verschlafenem Gesicht und äußerst ernster Miene Kaffee kochte und recht einsilbig auf Jolins Fragen antwortete.
»Nein, Paula schläft noch.« – »Nichts Besonderes.« – »So lala.«
Sie hatte darauf verzichtet, die Milch aufzuwärmen, und ein wenig überrascht festgestellt, wie sehr ihr Paula fehlte. Fast kam es ihr so vor, als ob sie ihre Mutter schon seit Wochen nicht mehr gesehen hätte.
»Wir haben Zeit ohne Ende«, sagte Anna, die auf dem letzten Bissen ihres Marmeladentoasts kaute, während sie neben Jolin herging. »Wir können uns also ganz in Ruhe überlegen, wie wir Klarisse ansprechen.«
»Am besten, wir fragen sie ganz direkt«, schlug Jolin vor.
»Jo.« Anna wischte sich die Krümel von den Fingern und schob die Hände in die Taschen ihrer Canvasjacke. »Dann besteht allerdings die Gefahr, dass sie dichtmacht«, wandte sie ein.
»Ach was!«, erwiderte Jolin. »Wir schnappen sie uns gleich zu Beginn der Pause. Ich wette, sie schafft es nicht, uns anzulügen.«
»Da kennst du Klarisse aber schlecht.«
»Und ich glaube, ich kenne sie besser, als du denkst.«
»Na, wir werden ja sehen«, sagte Anna und zog das Tempo nun doch ein wenig an. »Vielleicht läuft sie uns ja schon an der U-Bahn-Station über den Weg.«
Offenbar wollte sie die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen, Jolin befürchtete allerdings, dass sie Klarisse am Bahnhof nur in Begleitung von Katrin und Rebekka
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