Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
begannen zu schmerzen, und sie fragte sich allmählich, wie er es aushielt, so lange in der Hocke zu sitzen und dabei nicht nur sein Gleichgewicht, sondern auch nahezu ihr ganzes Körpergewicht zu halten.
… ein Wesen von besonderer Gabe …
»Du bist mir ausgeliefert«, murmelte er schmunzelnd und drückte seine Lippen noch ein letztes Mal zärtlich auf ihren Mund. »Ist dir das eigentlich klar?«
»Eine Verantwortung, mit der du sehr umsichtig umgehen solltest«, bestätigte Jolin. »Mir ist total schwindelig.«
»Das tut mir leid.«
»Lügner!«
»Ich fass es nicht: So harte Worte aus einem so wunderbar weichen Mund.« Rouben schüttelte den Kopf. »Aber okay. Dein Wunsch sei mir Befehl.« Er legte die Arme noch ein wenig enger um sie und hob sie beide mühelos in den Stand hinauf. »Und jetzt schieß los!«
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Jolin verdattert.
»Was?«
»Uns hingestellt.«
»Mit eisernem Willen.«
»Quatschkopf.«
Er lächelte schief. »Na ja, ein bisschen Muskelkraft war wohl auch dabei.«
»Angeber!«
»Bist du jetzt fertig?«
»Ja.«
»Gut.« Er zog sie weiter. »Dann können wir ja gehen.«
»Wohin?«
»Jeder in sein Heim, natürlich.«
»Und was ist mit ihm?« Jolin deutete auf das Grab.
»Was soll mit ihm sein?«
»Warum sind wir überhaupt hergekommen?«
Rouben seufzte leise. »Du bist also doch noch nicht fertig.«
»Womit?«
»Mit deinen Fragen.«
»Oah!« Jolin trommelte auf seine Brust ein. »Du bist wirklich das Allerletzte!«
» Der Allerletzte«, betonte Rouben. »Der dir so nah sein darf.«
»Du bist der Einzige«, sagte Jolin. »Vor dir gab es keinen, und nach dir wird es keinen geben.«
»Gut.« Rouben gab ein zufriedenes Grunzen von sich. »Was willst du wissen?«
»Hast du Gefühle für deinen Vater?«
Rouben blickte nachdenklich auf den schwarzen Stein, den eingemeißelten Schriftzug und das Herz aus Schneeglöckchen.
»Nein, ich glaube nicht«, sagte er schließlich.
»Für deine Mutter?«
Er legte den Kopf in den Nacken. »Jep.«
»Bist du traurig, dass sie tot ist?«
»Mhm. Aber ich weiß, dass es so besser für sie ist«, fügte er hastig hinzu. »Ohne Harro, auf ewig in dieser dunklen, kalten Welt gefangen, verfolgt vom Hass ihres Ehemanns …«
»… den sie sich ausgesucht hatte.«
»Nein, Antonin ist ein knappes Jahrhundert älter gewesen als sie.«
»Er hat also sie entwurzelt?«
Rouben nickte. »So darfst du es nennen.«
»Vielleicht hat sie nie vergessen, wie es war, ein Mensch zu sein«, sagte Jolin. »Vielleicht hat sie Harro deshalb so sehr geliebt.«
»Gut möglich.«
»Okay. Und was ist mit Vincent? Wie alt ist er?«
»Er war achtzehn, als sie ihn verwandelten. Ich glaube, es war Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in Wien.«
»Wer von ihnen beiden hat es getan?«
»Ramalia.«
Jolin seufzte leise. »Ist das der Grund, weshalb ihr euch so ähnlich seht, obwohl ihr gar nicht miteinander verwandt seid?«
»Du bist ganz schön schlau«, sagte Rouben mit ehrlicher Anerkennung.
»Vampirische Genetik«, meinte Jolin abwinkend. »Kaum etwas ist einfacher als das. Was mir jedoch nicht in den Kopf will, ist der Umstand, warum gerade er für die Erfüllung der Prophezeiung auserwählt war. Es muss in der dunklen Welt doch eine Menge Achtzehnjährige geben, die sich um diese Chance, ein begehrtes menschliches Leben zu bekommen, gerissen haben.«
»Gab es sicher auch«, bestätigte Rouben. »Aber, und das sage ich jetzt zum dritten und letzten Mal: Es kommt nicht alle Tage vor, dass sich ein Vampir in einen Menschen verliebt und ein Kind mit ihm zeugt. Eine solche Schande lag zu dieser Zeit wohl nur über Antonins Familie.«
»Und da liegt sie noch immer«, sagte Jolin. »Was spricht dagegen, dass sie es erneut versuchen?«
»Nichts. Allerdings müssten sie damit mindestens eintausendzweihundert Jahre warten.«
Die Prophezeiung! Natürlich. Jolin nickte. Jedes einzelne Wort dieses uralten, schicksalsschweren Textes aus der Welt der Vampire hatte sich unauslöschbar in ihr Gedächtnis eingebrannt.
»Einmal nur in eintausendzweihundert Jahren, sobald Vollmond und Wintersonnenwende sich einander nähern …«, begann sie zu rezitieren, »… wird es geschehen, dass die Zukunft sich an die Vergangenheit erinnert und ein Jüngling ans Tageslicht tritt, der in seinem neunzehnten Lebensjahr um Punkt Mitternacht vor dem Antlitz des vollen Mondes zwölf jungfräuliche Mädchen küsst, um die Blutschande seiner Anverwandten
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