Neumondkuss: Ein Vampirroman (German Edition)
»Leo und ich, wir schaffen das schon. Und du, meine Liebe … bloß nicht klein beigeben, hast du verstanden?«
»Ich werde dich nicht enttäuschen«, sagte Jolin.
»Es geht nicht um mich«, erwiderte Anna und küsste die Freundin zum Abschied nachdrücklich auf beide Wangen.
Als Jolin eine knappe halbe Stunde später am Hauptbahnhof angekommen war und den Abfahrtsplan unter die Lupe nahm, musste sie feststellen, dass sie die S-Bahn nach Lienenthal um wenige Minuten verpasst hatte und die nächste erst in einer knappen halben Stunde fuhr.
Weil sie keine Lust hatte, die ganze Zeit am Bahnsteig herumzustehen, und dadurch womöglich noch dazu verleitet wurde, ihr Vorhaben in Zweifel zu ziehen, steuerte Jolin kurzerhand einen Sandwichstand an und kaufte ein Käsebaguette zum Sofortessen und zwei Chickenwraps, die sie sich von der kleinen Vietnamesin, die kaum über die Theke sehen konnte, in Alufolie einwickeln ließ.
In einem Minisupermarkt in der Nähe des Eingangsbereichs erstand sie zudem eine Flasche Cider und eine kleine karierte Papiertischdecke und war somit perfekt ausgerüstet für ein kleines Überraschungspicknick. Mit einem Lächeln auf den Lippen schlenderte sie noch ein wenig an der Ladenzeile entlang. Ja, je länger sie darüber nachdachte und sich vorstellte, wie sie mit den Sachen vor Roubens Haus stand, desto überzeugter war sie, dass er sich letztendlich über ihren Besuch freuen würde.
»Gib es schon zu, Rouben Varescu, du liebst mich«, murmelte sie und schwenkte die Tüte mit den Wraps locker um ihr Handgelenk. »In Wahrheit hast du nämlich bloß Angst vor der eigenen Courage, du geheimnisvoller Zwielichtmensch. Aber weißt du, es ist mir völlig egal, wenn du niemals so wie ich, meine Freunde und meine Familie sein wirst.«
Die Fahrt mit der S-Bahn dauerte vierzig Minuten, anschließend stieg Jolin in den Bus, von dem sie annahm, dass er in die Richtung fuhr, in die sie wollte, und nach einer weiteren halben Stunde kam hinter einer Nadelbaumgruppe tatsächlich Roubens Haus in Sicht.
Jolin drückte den Knopf für das Haltesignal und stellte sich in den Mittelgang. Das Haus glitt an ihr vorbei, und es dauerte noch eine Weile, bis der Bus die nächste Haltestelle ansteuerte. Jolin seufzte. Sie würde nun also auch noch ein ganzes Stück zu Fuß zurücklegen müssen.
Nachdem sie ausgestiegen und der Bus weitergefahren war, stellte sie fest, dass sie sich in einer Senke befand. Ratlos sah sie sich um und versuchte sich zu orientieren. Zunächst einmal musste sie natürlich zurücklaufen, und wenn sie Glück hatte, traf sie vielleicht schon bald auf die Einmündung der Straße, die auf den schmalen Weg und schließlich auf das Haus zuführte. Und wenn sie richtig großes Glück hatte, erreichte sie Rouben vielleicht sogar jetzt gleich schon auf dem Handy. Dann würde er sie abholen – und alles war gut.
Hoffnungsvoll kramte Jolin das Mobilteil aus ihrer Tasche, holte Roubens Nummer aus dem Speicher und stellte fest, dass sie kein Netz hatte. Verdammt! Offenbar musste sie erst einmal aus dieser Senke heraus.
Jolin rannte los. Es war kälter geworden, der graue, diesige Himmel schien sich wie eine Decke, die jemand aufgeschüttelt hatte, auf das Land herabzusenken. Nach einer Weile vergrößerte sich der Landschaftsradius, doch nun sah hier plötzlich alles so gleich aus, dass Jolin noch immer nicht genau sagen konnte, hinter welchem Hügel oder Wäldchen sich das Haus befand.
Also versuchte sie es noch einmal mit dem Handy, und jetzt schien es mit der Verbindung auch zu klappen, zumindest ertönte nach dem Durchwählen das ersehnte Piepen. Doch leider meldete sich niemand, weder Rouben noch seine Mailbox.
»Du verdammter Kerl, wo steckst du?«, knurrte Jolin. »Ich stehe hier in der Pampa, und du meldest dich nicht.«
Genervt ließ sie das Handy in ihre Tasche zurückgleiten und stapfte weiter. Okay, dafür, dass sie sich auf diese Überraschungs-Odyssee begeben hatte, konnte er natürlich nichts, das war ihr eigenes Ding und allerhöchstens noch Anna ein Stück weit anzulasten. Aber die würde ihr jetzt auch nicht helfen können, da weder sie noch Leo einen Führerschein geschweige denn ein Auto besaßen.
Na toll! Die Wraps waren mittlerweile bestimmt schon lauwarm und durchgeweicht. Und sowieso war es wahrscheinlich das Beste, wenn sie auf der Stelle umdrehte und in die Stadt zurückfuhr. Jolin wollte es gerade tun, da fiel ihr ein, dass sie genauso gut auch zur nächsten
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