schoss.
Unwillkürlich machte Jolin einen Schritt zurück. Ihr Herz raste, und sie konnte kaum noch atmen. Das Handy! Warum zum Teufel nochmal hatte sie nicht daran gedacht, es mit herunterzunehmen? Dann hätte sie jetzt … ja, wen hätte sie jetzt überhaupt anrufen können? … Etwa einen ihrer Nachbarn? Na, der hätte sich sicher köstlich amüsiert!
Jolin versuchte, über sich selbst zu lachen, es wollte ihr allerdings nicht so recht gelingen, viel zu gegenwärtig war die Erinnerung an den letzten Herbst, als diese grausige Kälte ihr aufgelauert und sie durchs Treppenhaus bis zu ihrer Wohnung hinauf verfolgt hatte. Damals schon hatte sie diesen Schatten gesehen und seltsame Geräusche hier unten im Keller gehört, und auch damals hatte sie all das mit Rouben in Verbindung gebracht.
Es konnte doch nicht sein, dass die Zeit zurücklief und sich das Ganze wiederholte. Es durfte einfach nicht sein!
Jolin lehnte den Kopf gegen die Wand und zwang sich, tief durchzuatmen. Sie musste sich beruhigen, einen klaren Kopf behalten, nachdenken. Aber ihr Herz hörte nicht auf, gegen ihr Brustbein zu schlagen, ihre Knie zitterten, und ihre Hände waren so feucht, dass sie Mühe hatte, den Schlüsselbund zu halten. Lieber Himmel! – Was war denn schon passiert? Das, was sie da eben zu sehen geglaubt hatte, stammte wahrscheinlich von einem Fußgänger, dessen Schatten für einen Augenblick durch das schmale Kellerfenster in den Gang hinuntergefallen war.
Sie würde jetzt das Licht anmachen, diesen verdammten Gang betreten und durch die Kellertür ins Treppenhaus schlüpfen. Nicht einmal eine halbe Minute würde sie dafür brauchen – ach was, in weniger als fünfzehn Sekunden würde alles vorbei sein.
Jolin hielt den Atem an und schob sich langsam auf den Schalter zu. Entschlossen drückte sie auf das rot flackernde Lämpchen, und nahezu zeitgleich sprang das Licht im Gang an. Jolin reckte den Kopf weit durch den Türrahmen, bis sie die hellen Holzsparren der Privatparzellen erspähen konnte. Nein, da war nichts, überhaupt nichts, also trat sie in den Gang hinaus und eilte auf die Metalltür zu. Sie umfasste den Knauf und zog, doch ein plötzlicher kräftiger Sog riss ihr die Tür aus der Hand und ließ sie mit einem satten Schmatzgeräusch ins Schloss schnappen.
Jolin fluchte leise und suchte nach dem kleinen eckigen Kellerschlüssel in ihrem Bund. Sie fand ihn und führte ihn auf das Loch zu, da verlosch – viel zu früh – das Deckenlicht über ihr. Der Gang verlor seine Konturen, und ihr eigener Schatten glich nunmehr einem Schemen, der sich kaum noch von dem undefinierbaren Grau um sie herum unterschied. Fröstelnd tastete Jolin nach dem Lichtschalter neben der Tür und erstarrte in ihrer Bewegung. Ihr Blick war abermals auf die Kellergitter gefallen, und diesmal sah sie sie ganz deutlich: eine große dunkle Gestalt. Vollkommen reglos stand sie da, mehr als ein Schatten und trotzdem nicht wirklich greifbar.
Jolin hörte ihr eigenes erschrockenes Keuchen und registrierte die Wolke glitzernder Atemluft, die sich vor ihrem Gesicht zusammenballte und auf die dunkle Gestalt zutrieb. Es war eiskalt im Keller. So kalt, dass ihre Ohren und ihre Nasenspitze schmerzten und sie ihre Finger nicht mehr bewegen konnte. Ihr Herz klopfte noch immer wie verrückt, aber die Angst war schlagartig verschwunden.
Jolin hielt den Blick auf die Gestalt geheftet, und eine Ahnung von Wärme breitete sich in ihr aus. Es war kein körperliches Gefühl, eher so, als ob diese Wärme sie wie eine unsichtbare Hülle umgab und langsam in das Innere ihrer Seele sickerte. Eine feine Empfindung, neu und fremd und gleichzeitig so kraftvoll und vertraut, dass es Jolin die Tränen in die Augen trieb.
Bleib, dachte sie. Bitte, bleib einfach dort, wo du bist.
Langsam setzte sie sich in Bewegung. Ihre Gelenke waren steif von der Kälte, ihre Lungen brannten bei jedem Atemzug, und ihre Jeans knisterte unter der feinen Eisschicht, die sich auf ihrer Oberfläche gebildet hatte. Jolin wusste, dass es ein Fehler war, dass sie nicht gehen durfte, aber die Gestalt zog sie an wie ein Magnet – selbst wenn sie es gewollt hätte, sie hätte sich nicht dagegen wehren können.
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hast du meine mails nicht bekommen?
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ich konnte nicht antworten, ich hatte etwas zu erledigen.
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