Neun Tage Koenigin
Gebäude. Wir stiegen zwei Treppen hinauf und gelangten in einen Gang. Nicholas wurde gebeten, dort auf einer Bank vor dem Zimmer des Gefängnisaufsehers Platz zu nehmen.
„Zehn Minuten“, sagte einer der Wachmänner, als ich hereingelassen wurde.
Er folgte mir nicht.
Hinter Mrs Ellen betrat ich einen behaglichen Raum, in dem ein munteres Feuerchen im Kamin brannte. Jane saß in einem taubenblauen Kleid, das nur am Hals und an den Ärmeln mit ein wenig französischer Spitze verziert war, an einem Schreibtisch. Ihr schönes braunes Haar steckte in einem mit Perlen besetzten Haarnetz aus Spitze. Sie stand auf und kam auf mich zu, und ich machte, unfähig etwas zu sagen, einen tiefen Knicks. Dabei wäre das Kleid, das ich auf den Armen trug, beinah zu Boden gefallen.
„Lucy“, sagte sie, und ihre Stimme klang leise und traurig. Es gelang mir nicht, mich wieder zu erheben, also ergriff Jane mich bei den Armen und zog mich hoch. Mir liefen die Tränen die Wangen hinunter und fielen wie Regentropfen auf das Kleid, und Jane umklammerte den Stoff mit beiden Händen.
„Bitte nimm du es, Ellen“, sagte sie.
Sobald ich das Kleid nicht mehr hielt, merkte ich, wie ich anfing zu zittern. Ich bat sie beklommen um Vergebung, dass ich das kostbare Kleid befleckt hatte.
„Es gibt nichts zu vergeben, Lucy. Komm, setz dich zu mir.“
Sie führte mich wieder zu dem Schreibtisch zurück, zu einem Stuhl, der dem gegenüberstand, auf dem sie selbst gesessen hatte. Ich griff nach meinem Nähbeutel und kramte nach einem Stück Batist, um mir damit über die Augen zu wischen.
„Es tut mir so leid, Mylady“, murmelte ich. „Ich wünschte, ich wäre stärker. Ich sollte nicht weinen.“
Jane holte ganz langsam Luft. „Es braucht dir nicht leidzutun, Lucy, nicht heute. Heute möchte ich keinen Kummer.“
Ich wischte mir die Tränen ab und bat Gott, mich innerlich zu wappnen. Als ich schließlich zu ihr aufblickte, saß sie mit den Händen im Schoß da und wartete, dass ich mich beruhigte.
„Ihr werdet sicher begnadigt“, flüsterte ich.
Ihre Antwort kam schnell. „Nein, Lucy, das glaube ich nicht. Meine Base, die Königin, schickt seit vielen Tagen jeden Tag ihren Beichtvater zu mir, damit ich doch noch zum katholischen Glauben konvertiere und sie mich dann begnadigen kann. Ihre Berater wollen das nicht, und sie kann es ganz gewiss nicht tun, wenn ich mich nicht füge.“
„Sie würde euer Leben verschonen, wenn Ihr … wenn Ihr konvertiert?“ Ich konnte nicht verhindern, dass ganz kurz eine Spur von Abscheu in meiner Miene zu erkennen war. Und in dem Augenblick, als das geschah, wusste ich, dass Jane niemals ihre tiefsten Überzeugungen dem politischen Kalkül opfern würde. Ich sank tiefer in meinen Stuhl, als die Wahrheit langsam zu mir durchdrang. Jane war verloren. Sie würde sterben.
„Vielleicht würden sie mich ohnehin nicht verschonen“, fuhr Jane tonlos fort. „Mein Schwiegervater hat seine Überzeugungen für nichts und wieder nichts widerrufen. Aber er war ja auch nie ein Mann mit starken Überzeugungen, nicht wahr, Lucy? Er war ein ehrgeiziger Mann. Und das sind für mich zwei sehr unterschiedliche Dinge.“
„Ach, Mylady!“
Ein paar lange Sekunden herrschte angespanntes Schweigen zwischen uns.
„Mein Leben hätte keinerlei Bedeutung, wenn ich nicht ganz und gar ehrlich und aufrichtig wäre in dem, was mir am wichtigsten ist“, sagte sie schließlich. „Wenn ich schon für einen höheren Zweck sterben soll, soll es dann nicht für das sein, was mir am liebsten ist und was ich für wahr halte?“
Darauf antwortete ich nichts.
Sie beugte sich über den Tisch vor und nahm meine Hände in ihre. „Lucy, überleg doch mal!“ Ihre Stimme war lebhaft und kindlich. „Ich habe eine zweite Chance bekommen, eine richtige und gute Entscheidung zu treffen. Es war mein Hochmut, der mich hat glauben lassen, ich könnte Königin sein. Ich hätte mich weigern sollen. Aber jetzt habe ich eine zweite Gelegenheit bekommen, die richtige Entscheidung zu fällen. Ich habe eine Wahl. Siehst du jetzt, wie großartig das ist? Ich kann wählen.“
Wieder begannen meine Tränen zu fließen. Jane drückte meine Hände, wollte mich dazu bringen, mich mit ihr darüber zu freuen, dass die Entscheidung, die über ihr Leben bestimmen würde – mehr als die, die Krone anzunehmen –,
vor ihr lag und dass sie diese Entscheidung ganz für sich allein und selbstständig treffen konnte.
„Ist das der Grund, weshalb ich
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