Neun Tage Koenigin
vor uns.
Sie ist doch nur ein junges Mädchen , hätte ich am liebsten entgegnet. Aber ich war klug genug zu wissen, dass es nie um Janes Alter oder ihr Geschlecht gegangen war. Es war ihre gesellschaftliche Stellung gewesen, nach der es Männer gelüstet hatte. Und jetzt hatten andere wegen genau dieser Stellung Angst vor ihr.
In den ersten Tagen des neuen Jahres kehrten wir nach London zurück. Ich übte mich in Zuversicht.
Ende Januar führte dann jedoch Janes Vater in einem völlig sinnlosen Versuch, die Heiratspläne der Königin mit dem spanischen Prinzen noch zu vereiteln, einen Aufstand in Leicestershire an und verkündete, dass Jane immer noch die rechtmäßige Königin von England sei. Es wurde Haftbefehl gegen Henry Grey erlassen, und seine kleine Gruppe von Anhängern wurde rasch zerstreut. Er selbst wurde gefangen genommen und ins Gefängnis geworfen.
In dem Augenblick, als uns diese Nachricht erreichte, wusste ich, dass Janes Vater durch seine Selbstsucht Janes Schicksal besiegelt hatte. Solange Jane am Leben war, konnte jederzeit erneut ein Komplott zum Sturz der Königin angezettelt werden, das hatte ihr Vater unter Beweis gestellt. Kurz darauf wurde dann auch das Todesurteil von Lady Jane unterzeichnet.
Vier Tage nach Ausstellung des Hinrichtungsbefehls bekam ich einen dritten und letzten Brief von Jane. Er stammte eigentlich nicht von Mylady selbst, sondern von Mrs Ellen, und er wurde mir durch einen Diener von Mr Partridge, der Janes Gefängniswärter war, überstellt. Mrs Ellen schrieb:
Lucy Staverton
Schneiderin
Whitechapel School
Liebe Mrs Staverton,
Lady Jane Dudley bittet Euch, das Kleid, welches sie bei Euch in Auftrag gegeben hat, in den Tower zu bringen. Ihr dürft es in die Wohnung des Gefängniswärters des Towers, Mr Partridge, liefern. Der Diener, der Euch diesen Brief aushändigt, wird Euch begleiten.
Freundliche Grüße,
Ellen MacIlvray
Nicholas zögerte zunächst, gab aber dann meinen Bitten nach, allerdings wieder nur unter der Bedingung, dass er mich begleiten würde. Ich musste Jane unbedingt sehen.
Das Kleid war schon seit Monaten fertig, und ich hatte es in einer Truhe verstaut, weil ich nicht wusste, wo ich es sonst aufbewahren sollte. Als ich es jetzt hervorholte, um es Jane zu bringen, stockte mir der Atem. Das Kleid war so schwarz wie nie zuvor. Das graue Februarlicht verschluckte fast die gesamten Blautöne des Stoffes.
Schlagartig kam mir ein Gedanke in den Sinn, den ich aber auf der Stelle wieder verscheuchte. Nicht einen Augenblick lang wollte ich mich bei dem Gedanken aufhalten, ob Lady Jane vielleicht um das Kleid bat, weil sie es bei ihrer Hinrichtung tragen wollte.
Mrs Ellen wartete am Tor zum Tower, um uns in Empfang zu nehmen, sah mir aber nicht in die Augen, als ich näher kam. Sie war in Begleitung zweier Wachen, die die Falten des neuen Kleides und meinen Nähbeutel durchsuchten, wahrscheinlich, um ganz sicher zu sein, dass ich nicht irgendwelche Werkzeuge hineinschmuggelte, um Lady Jane zur Flucht zu verhelfen. Nachdem die Sachen durchsucht worden waren, bekam ich das Kleid und den Beutel zurück.
„Gut, dass Ihr kommt, Mrs Staverton“, sagte Mrs Ellen mit ausdrucksloser Stimme, so als wäre ich lediglich gekommen, um einen zerrissenen Kragen zu flicken.
Wir folgten ihr schweigend in ein massives Steingebäude.
Ich hatte noch nie zuvor einen Fuß in den Tower gesetzt, ebenso wenig wie Nicholas, und ich war froh, dass er bei mir war, als wir zu Mr Partridges Wohnung gingen. Die Ausmaße des Towers wirkten in der Trostlosigkeit des Winters richtiggehend bedrohlich, und ich wünschte, es hätte wenigstens ein paar vereinzelte Glockenblumen in den Fugen der Steinmauern gegeben, doch es gab keinen einzigen Farbtupfer in der Düsternis. Unser Atem stieg in Wölkchen von unserem Mund auf, als hätte er es ebenfalls eilig, möglichst rasch zu verschwinden.
Als wir den zweiten Hof betraten, nahm Nicholas meinen Arm und flüsterte mir zu, ich solle die Augen schließen, er werde mich jetzt führen. Ohne dass er es mir sagen musste, wusste ich, dass wir an dem Schafott vorbeigingen, auf dem John Dudley und andere hingerichtet worden waren und noch viele weitere hingerichtet werden würden. Ich kniff die Augen fest zusammen, presste mein Gesicht in den Stoff von Lady Janes Kleid und lehnte mich Hilfe suchend an meinen Mann.
Schon bald flüsterte mir Nicholas zu, ich könne meine Augen jetzt wieder öffnen, und in diesem Moment betraten wir ein
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