Neun Tage Koenigin
Euch das Kleid bringen sollte?“, fragte ich mit rauer Stimme, schaute auf das Kleid in Mrs Ellens Händen und hasste es ein wenig.
„Es ist ein schönes Kleid für einen schönen Tag. Und du hast es für mich gemacht. Ich habe keine Angst vor dem Sterben, Lucy.“
Entsetzt blickte ich auf.
„Ich habe nicht gesagt, dass ich keine Angst vor der Axt habe“, fügte sie rasch hinzu. „Davor habe ich schreckliche Angst. Aber ich habe keine Angst zu sterben. Ich kann in Ruhe sterben.“
Ich fing an zu weinen, und Jane zog mich an sich. Die Rollen, die wir an dem Tag innegehabt hatten, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, waren jetzt vertauscht. Sie strich mir übers Haar und flüsterte, dass alles gut werden würde.
„Du bist mir eine wahre Freundin gewesen, Lucy, und ich bin Gott so dankbar, dich kennengelernt zu haben.“
„Und ich Euch.“
„Was wird denn jetzt mit Edwards Ring?“, flüsterte ich kurz darauf.
„Ich möchte, dass du ihn erst einmal behältst und gut verwahrst. Vielleicht findest du ja irgendwann eine Möglichkeit, ihn Edward zurückzugeben. Wenn nicht, dann gräme dich nicht. Wenn er eine andere heiratet, gib ihm den Ring nicht zurück, sondern behalte ihn, Lucy. Dann behalte du ihn, damit du dich immer daran erinnerst, Gott jeden Morgen dafür zu danken, dass du Nicholas hast und er dich.“
Die Wache öffnete die Tür und verkündete, es sei Zeit für mich zu gehen. Ich gab Jane einen Kuss auf die Wange.
„Ihr seid so tapfer, Mylady“, murmelte ich.
„Nenn mich Jane“, flüsterte sie. Zum ersten Mal seit ich eingetroffen war, glänzten jetzt ihre Augen. „Bete für mich, Lucy!“
„Stets, Jane. Stets.“
Meine Freundin Jane wurde am 12. Februar 1554 um neun Uhr früh im Tower von London vom Leben zum Tode befördert. Sie war sechzehn Jahre alt.
Ich war an ihrem schönen Tag nicht zugegen.
Jane
Upper West Side, Manhattan
Einunddreißig
Der Ring lag auf dem Tisch für Neuerwerbungen unter dem warmen Licht einer Tischlampe. Das Kinn bequem auf eine Hand gestützt, betrachtete Wilson ihn. An seinem Hawaiihemd, das mit blauen Hibiskusblüten bedruckt war, hing noch ein Rest seines Frühstücks. Er machte ein finsteres Gesicht. Stacy starrte den Ring mit einer Art hoffnungsvoller Unruhe an, den Kopf leicht schräg gelegt wie jemand, der beschlossen hat, sich vorzustellen, was andere nicht zu denken wagen. Ich wusste, was die beiden dachten.
Wilson glaubte nicht, dass der Ring Jane Grey gehört hatte.
Stacy wollte glauben, dass er ihr gehört hatte.
Und ich stand irgendwo dazwischen.
Wilson hustete. „Es kommt mir einfach zu unwahrscheinlich vor, Jane. Völlig abwegig.“
„Aber dass es unwahrscheinlich ist, muss doch noch längst nicht heißen, dass es nicht möglich ist“, wandte Stacy ein.
Ich trank einen Schluck von meinem Kaffee, meinem vierten an diesem Morgen, und stellte die Tasse dann auf dem Tisch ab. „Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und gedacht, dass Sie recht haben, Wilson. Und die andere Hälfte der Nacht habe ich wach gelegen und gedacht, dass Sie recht haben, Stacy.“
„Nun ja, es ist natürlich ganz amüsant, einmal anzunehmen, dass es ihrer gewesen sein könnte“, entgegnete Wilson. „Deshalb habe ich Sie ja angerufen. Aber Eric und ich haben dieselbe Biografie im Internet gelesen wie Sie, Jane. Es wird nirgends erwähnt, dass irgendjemand Jane Grey einen Verlobungsring geschenkt hätte.“
„Aber das muss doch nicht automatisch auch heißen, dass sie keinen bekommen hat“, warf Stacy ein. „Es bedeutet nur, dass es nirgends erwähnt wird.“
Ich nahm den Ring, drehte ihn und betrachtete die alten Steine darauf. „Ich habe gestern noch etliche andere Artikel im Internet gelesen, Dutzende, aber von so einem Ring ist nirgends die Rede.“
Es wurden in allen Quellen nur drei Männer als mögliche Anwärter auf eine Ehe mit Lady Jane Grey genannt: König Eduard VI. – und bei den Eheverhandlungen mit ihm war nichts herausgekommen. Dann gab es noch den Sohn des Herzogs von Somerset, Edward Seymour, aber das Arrangement wurde nie offiziell. Und schließlich war da Guildford Dudley, der Mann, den sie nicht einmal einen Monat nach der Verlobung heiratete.
„Nun, vielleicht hat ihr ja Guildford den Ring geschenkt“, sagte Stacy.
„Vielleicht, aber die Ehe mit ihm wurde einfach zu schnell arrangiert, und mehrere Quellen berichten, dass Lady Jane ihn nicht einmal mochte. Wieso hätte er ihr dann einen Ring mit einer solchen
Weitere Kostenlose Bücher