Neun Tage Koenigin
herein.
Claire Abbot war etwas jünger als ich, klein und zierlich, mit einer Kurzhaarfrisur, die ihre schöne Kopfform betonte. Sie trug Jeans und eine Karobluse mit hochgeschobenen Ärmeln. In ihrem Büro herrschte kontrolliertes Chaos. Überall lagen kleine Stapel von Büchern, Papieren und Zeitschriften, aber es waren ordentliche kleine Stapel.
Als ich das Büro betrat, stand sie lächelnd auf. „Jane Lindsay? Hallo, ich bin Claire Abbot. Nehmen Sie doch bitte Platz.“
„Danke, dass Sie sich so kurzfristig Zeit für mich nehmen, Dr. Abbot. Ich weiß das sehr zu schätzen.“ Ich nahm ihr gegenüber an ihrem Schreibtisch Platz und bemerkte, dass an ihren Wänden Bilder und Drucke von Schlössern und Kathedralen hingen und Porträts englischer Adliger. Große Bücherregale zu beiden Seiten ihres Schreibtisches waren von oben bis unten mit bunten Buchrücken gefüllt, von denen manche offensichtlich sehr alt waren. Neben ihr, etwa in Ellbogenhöhe, stand eine Tasse Tee.
„Also, ich freue mich, dass Sie heute kommen konnten, und nennen Sie mich doch bitte Claire.“ Sie ließ sich wieder auf ihrem Schreibtischsessel nieder. „Möchten Sie eine Tasse Tee?“
„Nein, vielen Dank. Irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass Sie einen britischen Akzent haben.“
„Mein Vater war Engländer“, erklärte sie und trank dann einen Schluck Tee. „Ich wurde in London geboren. Ich lebe zwar schon seit meinem dritten Lebensjahr nicht mehr dort, aber ich habe noch immer das Gefühl, dass mir die englische Geschichte im Blut liegt.“
Sie stellte ihre Tasse ab. „Wie ist es bei Ihnen? Interessieren Sie sich auch für englische Geschichte? Sind Sie dadurch zu dem Ring gekommen?“
„Nein. Ich besitze ein Antiquitätengeschäft in Manhattan und habe viele Stücke aus dem viktorianischen und edwardianischen Zeitalter im Angebot, aber ein so altes Stück ist mir noch nie untergekommen.“
„Kann ich den Ring sehen?“
Ich griff in meine Handtasche und gab ihr erst das Gebetbuch, das ich in ein Stück weichen Baumwollflanell gewickelt hatte, und dann den Ring. Ich nahm ihn aus seiner Schachtel und legte ihn auf den Schreibtisch.
Erst betrachtete sie ausführlich das Gebetbuch und murmelte dann, dass, wem auch immer es gehört haben mochte, er damit sorgsamer hätte umgehen müssen.
Dann legte sie das Buch zur Seite und untersuchte den Ring. Ich schaute zu, wie sie ihn unter ihre Schreibtischlampe hielt, dann nach einer kleinen Lupe griff, die in einer Bleistiftdose lag, und diese ganz nah über die Gravur an der Innenseite hielt.
„ Vulnerasti cor meum, soror mea, sponsa “, las sie vor. „Das ist aus dem Hohelied, oder?“
„Ja, stimmt.“
„Der Ring ist wirklich wunderschön gemacht. Haben Sie ihn schon einem Juwelier gezeigt?“
„Ein Freund von mir, der auf Long Island mit antikem Schmuck handelt, hat ihn sich angesehen. Er sagt, dass die Steine von höchster Qualität sind und hervorragend geschliffen. Deshalb glaube ich, dass er von einem Adligen erworben und auch an eine adlige Person verschenkt wurde. Und dass er aus dem elisabethanischen Zeitalter oder davor stammen muss.“
„Und deshalb glauben Sie, dass dieser Ring Lady Jane Grey gehört hat?“
„Na ja, die Epoche stimmt schon mal, die Qualität der Steine passt zu ihrer gesellschaftlichen Stellung, und dann ist auch noch ihr Vorname eingraviert.“
Claire nickte langsam. „Wie viel wissen Sie über Lady Jane Grey?“
„Ich habe vier Bücher über sie gelesen und ein dickes Buch über die Tudors. Ich weiß, dass ihre einzige offizielle Verlobung die mit Guildford Dudley war.“
„Den sie ja dann auch geheiratet hat.“
Ich beugte mich ein wenig auf meinem Stuhl vor. „Aber dieser Ring weist keinerlei Gebrauchsspuren auf. Was ist, wenn sie ihn nicht getragen hat, weil sie das Gefühl hatte, sie dürfe es nicht? Was ist, wenn … was ist, wenn es weniger ein Verlobungsring war als eine Art Liebeserklärung von der Person, von der sie ihn bekommen hat?“
„Ja, was wäre, wenn?“, fragte Claire mich lächelnd.
„Sie halten das für eine verrückte Idee?“
„Verrückt? Nein. Faszinierend? Sehr. Wahrscheinlich? Das kann keiner wirklich sagen.“
„Aber könnte es denn überhaupt ihrer gewesen sein?“, fragte ich.
Claire hielt den Ring noch einmal ins Licht. „Also, Sie wissen wahrscheinlich genauso gut wie ich, dass das möglich ist. Aber bei meiner gesamten Quellenarbeit über Jane Grey habe ich weder in Primär- noch in
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