Neun Tage Koenigin
Ich nahm das Buch aus der Kassette heraus und schlug es behutsam auf, merkte aber sofort, dass sich dadurch die Seiten vom Buchrücken zu lösen drohten. Ich legte es also vorsichtig vor mir auf den Tisch und wünschte, ich hätte Handschuhe angezogen, bevor ich es in die Hand genommen hatte.
„Guter Gott. Das Buch muss drei-, vierhundert Jahre alt sein!“ Wilson kniff die Augen zusammen, um die Schrift überhaupt lesen zu können. „Sehen Sie sich nur diese Buchstaben an!“
Ich schaute ebenfalls mit zusammengekniffenen Augen auf die erste Seite, aber die Tinte war so verblasst, dass ich nichts erkennen konnte außer den Titel: „Book of Common Prayer“.
„Glauben Sie wirklich, dass es so alt ist?“, fragte ich nach.
„Auf jeden Fall. Eigentlich müsste es in irgendeinem Museum liegen und nicht auf dem Dachboden eines alten Gutshauses“, grummelte Wilson. „Was hat Emma geschrieben, wo sie es herhat?“
„Von einem Trödelmarkt in Wales“, antwortete ich.
Ich berührte den Rand des Buchrückens, der nur noch zur Hälfte mit der Rückseite des Einbandes verbunden war, und strich mit dem Finger an der Innenseite entlang. Es fühlte sich an wie Leder. Eine Wölbung unter dem Vorsatzpapier erregte meine Aufmerksamkeit, und ich fuhr mit der Fingerspitze darüber. Die Wölbung hatte etwa die Größe eines amerikanischen Vierteldollarstückes und saß in dem Einband wie ein kleiner Klumpen. Was auch immer das sein mochte, es würde auf jeden Fall entfernt werden müssen, wenn das Buch restauriert werden sollte.
„Glauben Sie, dass Sie das reparieren können?“, fragte ich Wilson.
Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sollte das doch lieber von einem Profi gemacht werden, aber das würde Sie sicher eine Stange Geld kosten. Und in dem Zustand, in dem es jetzt ist, wird Ihnen ganz bestimmt niemand so viel dafür zahlen, wie es wert ist. Das ist wirklich jammerschade.“ Er befingerte den Rosenkranz. „Der hier ist in hervorragendem Zustand, allerdings auch ganz sicher nicht so alt wie das Buch.“
Er hielt das Kreuz des Rosenkranzes hoch, sodass es an seiner Hand baumelte. Die schwarzen Perlen schimmerten unter der gedämpften Deckenbeleuchtung und schrien praktisch danach, von betenden Händen berührt zu werden. Wann war das wohl zum letzten Mal der Fall gewesen? Ich schaute auf die glänzenden schwarzen Perlen in Wilsons Händen und dachte einen Moment lang darüber nach, wie es sich wohl anfühlen mochte, sie in den Fingern zu halten und mit dem auferstandenen Jesus zu reden.
Stacy kam zurück. „Und, habe ich etwas verpasst?“
„Das hier ist ein wunderschöner Rosenkranz, und dann haben wir noch einen hoffnungslosen Handspiegel und ein sehr altes Gebetbuch, das nicht gut behandelt worden ist.“ Wilson legte den Rosenkranz neben das zerfledderte „Book of Common Prayer“.
„Wow“, sagte Stacy und strich mit dem Finger über die Perlen des Rosenkranzes. Dann beugte sie sich über das Buch, blätterte vorsichtig eine Seite um und bekam ganz große Augen. „Das ist ja richtig alt. Und es ist ein protestantisches Exemplar. Sehen Sie mal. Es wurde von der ,Church of England‘, der anglikanischen Kirche, gedruckt. Und … Oh mein Gott … haben Sie das Datum hier gesehen?“
Wilson und ich beugten uns vor, aber für mich war die Tinte zu verblasst, um noch erkennen zu können, was dort stand. Stacys junge Augen waren besser. „Sechzehnhundertzweiundsechzig. Dann ist es also dreihundertfünfzig Jahre alt!“
Ich hatte noch nie etwas so Altes besessen. Noch nie.
„Ein katholischer Rosenkranz in einem protestantischen Gebetbuch.“
Wilson lachte.
Stacy beugte sich wieder über das Buch, und ich bekam mit, wie sie die kleine Wölbung im Einband bemerkte. „Was ist denn das?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ich. „Ein totes Insekt oder so etwas. Ich bin jedenfalls sicher, es ist die Ursache dafür, dass der Buchrücken sich ablöst. Wir müssen es irgendwie entfernen, denn der Buchrücken lässt sich bestimmt nicht wieder befestigen, solange dort diese Wölbung ist.“
„Wollen Sie versuchen, es selbst zu reparieren?“
„Wilson hat gesagt, es würde sicher ein Vermögen kosten, es von einem Profi restaurieren zu lassen.“
Stacy nickte. „Aber vielleicht würde es sich ja trotzdem lohnen. Sie könnten es dann wahrscheinlich für gutes Geld an einen Sammler verkaufen.“
Für mich hatte das Buch etwas Tröstliches – wie die Uhr, die nicht tickte –, und bei dem
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