Neun Tage Koenigin
im Ankleidezimmer. Ich ging zur Personaltreppe, die zu den Räumlichkeiten der Bediensteten hinunterführte, um zu schauen, ob es noch etwas zu essen für mich gab. Der Essraum für das Personal war beinah leer. Ein paar Diener beendeten gerade ihre Mahlzeit, aber mein Eintreten wurde kaum bemerkt. Die Königinwitwe war im Haus beliebt gewesen. Sogar hier, in einem Raum, den sie wahrscheinlich nie betreten hatte, konnte man Traurigkeit spüren.
Ich setzte mich neben ein Mädchen in meinem Alter, das ich schon zuvor in der Garderobe gesehen hatte, wo es ein paar Männerreithosen geflickt hatte. Eine ältere Frau, die ebenfalls in der Garderobe an einem Stück schwarzem Samt gearbeitet hatte, saß auf der anderen Seite neben dem Mädchen und blickte finster drein, als ich mich setzte. Sie hatten die Garderobe schon lange vor mir verlassen. Mrs Ellen hatte die finster dreinblickende Frau Alice genannt. Ein paar Stühle weiter saß noch eine Frau, die ihren Kopf auf die Handballen gestützt hatte. Sie sah müde aus. Ich bekam eine Schale mit Brühe und einen Teller mit Braten und Kartoffeln hingestellt.
Augenblicklich stand Miss Alice auf und schnalzte mit der Zunge. „Mach ein bisschen hin, Nan!“, sagte sie brummig zu dem jungen Mädchen. „Der Admiral will aufbrechen.“
Das Mädchen namens Nan aß einen winzigen Bissen Kartoffel. „Ja, Ma’am.“
Alice ging weg, und Nan blickte ihr nach und kaute dabei langsam und bedächtig.
Dann wandte sie sich mir zu. „Ich bin Nan Hargrave.“
„Und ich heiße Lucy Day.“
Nan deutete mit dem Kopf in Richtung der Tür, durch die Alice verschwunden war. „Miss Alice kann sich nicht entscheiden, ob sie verärgert oder erleichtert darüber sein soll, dass man nach dir geschickt hat. Sie mag es nicht, wenn ihre Nadeln und Fäden von auswärtigen Schneiderinnen benutzt werden. Aber sie hätte es sicher nicht geschafft, so kurzfristig ein Kleid für Lady Jane zu besorgen. Und das weiß sie auch.“
„Bist du schon lange in Sudeley?“, erkundigte ich mich.
„Ich bin bei den Seymours, seit ich zwölf bin, aber sie verbringen nur die Sommermonate hier in Gloucester. Der Admiral hält sich lieber in Chelsea auf. Er ist gern in der Nähe des Hofes, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Seit du zwölf bist?“
„Zuerst bei seiner Mutter, Lady Margaret, dann beim Lord Admiral. Mein Vater war erster Schneider des Admirals. Papa ist vor zwei Jahren gestorben, aber der Admiral hat mich trotzdem behalten. Er mag meine Näharbeiten. Er sagt, meine Nadelstiche sind besser als die von Männern.“
Die Frau in unserer Nähe nahm ihren Kopf von den Händen und sah Nan an. Eine Augenbraue hob sich in einem Bogen nach oben wie ein Katzenbuckel, doch Nan übersah sie einfach.
„Wie lange bist du denn schon in Bradgate?“, fragte Nan mich.
„Erst seit Januar.“
„Ach so, dann hast du also Lady Jane noch gar nicht gekannt. Das süße Ding. So still. So anders als Prinzessin Elisabeth, wie du ja sicher weißt. Sie waren Anfang des Jahres alle in Chelsea zusammen. Die beiden sind so unterschiedlich wie Tag und Nacht.“
Ich wusste, dass sie Elisabeth meinte, die bedauernswerte Tochter von König Heinrichs Frau Anne Boleyn, also nickte ich. Die Frau auf dem anderen Stuhl räusperte sich, aber erneut kümmerte sich Nan nicht darum.
„Es fehlt mir doch sehr, mich um die Kleider der Prinzessin zu kümmern“, sinnierte Nan.
„Hatte denn die Prinzessin keine eigene Schneiderin?“, wollte ich wissen.
„Sie hatte sogar mehrere, aber sie hat es immer irgendwie geschafft, ihre Kleider zu zerreißen.“ Nan lächelte mich an, als ob sie mir gleich ein Geheimnis anvertrauen würde. „Ich habe mehr als nur einmal gerissene Nähte an ihrem Unterkleid repariert“, fuhr sie fort, aber so leise, dass es kaum noch zu verstehen war.
Die Frau, die uns gegenübersaß, schob ihren Teller von sich und stand auf. „Wenn ich heute Abend abreisen müsste, dann würde ich jetzt zu Ende essen und meine Sachen packen“, sagte sie zu Nan. Die drehte sich zwar zu der Frau um und sah sie an, sagte aber nichts. Nach einem kurzen unbehaglichen Schweigen verließ die Frau dann den Raum, sodass wir allein waren.
Jetzt wandte sich Nan wieder an mich. „Die hat die unangenehme Aufgabe, sich um das Kinderzimmer zu kümmern. Ich habe gehört, dass das Baby der Königin nachts stundenlang schreit und sich nicht beruhigen lässt. Kein Wunder, dass die Frau so unleidlich ist.“
„Was … was
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