Neun Tage Koenigin
mir über Dr. Kirtland noch hatte sagen wollen, es dann aber doch nicht getan hatte.
Er ist jung.
Dr. Kirtland setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber. Er hatte weder eine Karteikarte noch ein Klemmbrett, ja, nicht einmal ein Blatt Papier dabei, obwohl ich Formulare ausgefüllt und ihm am Tag zuvor per E-Mail zugeschickt hatte. Er schlug die Beine übereinander, nahm sich eine Handvoll ungeschälte Pistazien aus der Holzschale und lehnte sich zurück.
„Pistazien?“, fragte er und deutete dabei mit dem Kopf auf die Schale.
„Nein. Nein, vielen Dank.“
„Mögen Sie keine Pistazien?“
„Äh … nein. Ich meine ja, ich mag sie. Aber … jetzt nicht, danke.“
„Und, wie war Ihr Tag bisher?“
Er warf sich ein paar Pistazien in den Mund, kaute und wartete darauf, dass ich antwortete.
„Ganz okay so weit. Irgendwie sind die Tage zurzeit alle ziemlich gleich.“ Ich starrte auf die Schale mit Pistazien, ohne mir dessen bewusst zu sein.
„Sind Sie sicher, dass Sie nicht doch ein paar davon möchten?“, bot er ungezwungen an.
Ich schüttelte den Kopf. Am liebsten wäre ich weggerannt. Ohne jeden Grund schossen mir Tränen in die Augen.
„Sie müssen das Meer sehr mögen“, plapperte ich los und ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, um meine innere Spannung abzubauen. Dabei überschlug sich meine Stimme ein wenig, und mir war klar, dass er es bemerkt hatte.
„Die Wahrheit ist, dass wir einen Innenarchitekten beauftragt haben, unsere Praxis freundlich und einladend zu gestalten.“
Ich biss mir auf die Lippe, um die Tränen zu unterdrücken, die hier jetzt wirklich nichts zu suchen hatten, und nickte.
„Und, ist es gelungen?“, fragte er.
Ich wandte mich ihm wieder zu und sah ihn an. „Bitte, was haben Sie gesagt?“
„Ich habe gefragt, ob es sich hier einladend und freundlich anfühlt, Mrs Lindsay?“
Ich musste schlucken. „Also … ich bin ehrlich gesagt kein großer Meeresfan. Ich mag die offene See nicht, weil man den Grund nicht sehen kann. Man kann nicht sehen, wo es zu Ende ist.“ Ich wandte mich wieder von ihm ab und schaute zum Fenster hinaus, wo unter uns eine vielbeschäftigte Welt unbekümmert ihrem Alltag nachging.
„Haben Sie das in Bezug auf offene Gewässer schon immer empfunden?“
Ich wandte den Blick nicht von dem Asphalt dort tief unter uns ab. „Ja“, antwortete ich. Aber dann drehte ich mich wieder zu ihm um, und es machte mich plötzlich nervös, dass er schon so früh im Verlauf unseres ersten Gespräches nicht nur von meiner ältesten Angst erfahren, sondern sie auch noch missverstanden hatte. Ich hatte nämlich gar keine Angst vor Wasser. Ich hatte Angst vor dem, was jenseits des Wassers war, nämlich tiefes, finsteres Nichts. Meine Kindheitsängste hatten nichts mit dem zu tun, was ich jetzt gerade erlebte.
„Hören Sie, ich habe keine Angst vor dem Ertrinken. Ich kann ganz gut schwimmen. Ich sehe nur gerne den Boden. Ich sehe gerne, wo es zu Ende ist. Ich mag es nicht …“ Meine Stimme verklang, während Bilder von dunklen Wassern und tiefen Seen mein Denken fluteten; bodenlose Orte ohne Haltegriffe oder auch nur einen Hinweis darauf, wo das Unbekannte endete und die Sicherheit begann.
Bis zu diesem Augenblick war mir nicht in den Sinn gekommen, dass meine alte Aversion gegen offene Gewässer irgendetwas mit dem Grund zu tun haben könnte, weshalb ich jetzt hier in der Praxis des Therapeuten saß.
Dr. Kirtland beugte sich in seinem Stuhl etwas vor. „Mrs Lindsay, Sie sind nicht die erste Person auf diesem Stuhl, die sich fragt, was sie hier eigentlich macht. Mir ist klar, dass es Sie Mut gekostet hat herzukommen. Ich kann Sie beruhigen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass Sie mir vielleicht die falschen Antworten geben könnten, weil es nämlich keine falschen Antworten gibt. Ich werde nicht Ihre Probleme lösen. Aber ich werde Ihnen helfen. Das verspreche ich Ihnen.“
Er faltete seine Hände vor sich auf dem Tisch und wartete darauf, dass ich etwas sagte. An der Wand hinter ihm hingen eingerahmte Urkunden – rechteckige Beweise für seine vielfältigen Leistungen. Die Glasscheibe vor seiner Doktorurkunde, die ihm die Columbia University ausgestellt hatte, blendete ein ganz klein wenig, sodass sie hinter seinem Lockenkopf wie ein Heiligenschein wirkte.
„Möchten Sie mir erzählen, was Sie zu mir führt?“, fragte er geduldig. Mehrere lange Sekunden vergingen. Er wartete auf mich.
„Aber Sie wissen doch schon, weshalb ich
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