Neun Tage Koenigin
müde.
„Hallo!“ Ich täuschte Munterkeit vor. „Und, wie ist es heute gelaufen?“
„Ganz gut. Ich habe bei den vierhundert Metern meine persönliche Bestzeit verbessert, aber für einen Sieg hat’s nicht gereicht. Ich freu mich trotzdem darüber und der Trainer auch.“
„Das ist ja toll, mein Schatz. Ich gratuliere dir. Ich wünschte, ich hätte dabei sein können.“
„Vielleicht kannst du ja nächstes Wochenende kommen, dann haben wir einen Heimwettkampf.“
Seine Stimme klang erwartungsvoll. Er wünschte sich, dass ich käme. „Das würde ich wirklich gerne. Ich werde sehen, ob ich es einrichten kann.“
„Gut.“
„Ist … ist Papa noch bei dir?“
„Er ist vor ungefähr einer Viertelstunde gefahren.“
„Dann ist er also auf dem Rückweg nach Manchester?“
„Ja, wahrscheinlich. Da wohnt er doch jetzt, oder?“
Seine Antwort hatte einen leicht sarkastischen Unterton.
„Na, dann warte ich einfach, dass er zurückruft. Ich hab ihm auch schon eine Nachricht hinterlassen.
„Warum denn das? Wozu?“
Jetzt war Connors Tonfall knapp, fast patzig.
„Wie bitte?“
„Worüber wolltest du denn mit ihm reden?“
„Also wirklich, Connor, das geht nur deinen Vater und mich etwas an.“ So hatte Connor noch nie mit mir geredet. Er klang verstört.
„Also wollt ihr endlich miteinander reden?“
„Was hast du gerade gesagt?“
„Ich habe gefragt, ob ihr endlich miteinander reden wollt?“
„Akustisch habe ich dich schon verstanden, Connor. Zurzeit macht dein Vater die Ansagen. Er wollte mehr Freiraum, und den versuche ich, ihm zu lassen.“
Connor schwieg. Ich hätte jetzt gern sein Gesicht gesehen, hätte gern gewusst, was er dachte. Ich hätte es sofort an seiner Miene ablesen können. Als er noch kleiner gewesen war und noch zu Hause gewohnt hatte, da wusste ich immer, was in ihm vorging. Immer. Wenn er verletzt war oder wütend oder frustriert oder wenn er Angst hatte, ich konnte es immer sagen. Er sagte dann zwar nichts, aber ich wusste es, und dann fragte ich ihn, was los sei, und er erzählte es mir, und dann war seiner Stimme eine stille Erleichterung darüber herauszuhören, dass ich nachgefragt hatte. Aber jetzt schwieg er, und er war dreihundertfünfzig Kilometer von mir entfernt. Jetzt wusste ich nicht, was er dachte.
„Was soll ich denn deiner Meinung nach machen, Connor?“, fragte ich ihn. „Sag mir, was ich tun soll!“
Es machte mir selbst Angst, wie sehr ich mir wünschte, dass mein halbwüchsiger Sohn mir sagte, was ich tun sollte. Diese Erkenntnis überrollte mich wie eine zerstörerische Woge mit voller Wucht. Molly hatte recht. Jonah Kirtland hatte recht. Ich wollte einfach keine eigenen Entscheidungen treffen. Oder ich wusste nicht, wie das ging. Oder ich hatte einfach nicht den Mut, es zu versuchen.
Ein paar Sekunden lang sagte mein Sohn gar nichts. Als er dann weitersprach, klang er nicht wie ein Zwanzigjähriger, sondern älter. „Der Mannschaftsbus fährt jetzt gleich ab, Mama. Ich muss los.“
Ich verspürte nur ein tiefes Bedauern, das mir durch und durch ging.
„Es tut mir leid, Connor! Ich wollte dich nicht mit dieser Frage belasten. Es tut mir wirklich leid.“
„Ist schon okay.“
„Ich versuche auf jeden Fall, nächstes Wochenende zu kommen. Ich versprech’s dir.“
„Gut.“
Wir verabschiedeten uns, und ich sagte ihm noch einmal, dass ich ihn lieb hatte. Dann beendete ich das Gespräch und starrte mein Handy an, als wollte ich mit reiner Willenskraft erreichen, dass ein Anruf von Brad angezeigt würde. Ich hielt das stumme Handy immer noch in der Hand, als meine Mutter die Zimmertür öffnete und sagte, die Party habe inzwischen angefangen und die Gäste fragten bereits, wo ich denn bliebe.
Lucy
Bradgate Hall, Leicestershire
England, 1551
Sechzehn
Unsere Kutsche fuhr in Bradgate vor, das still und gelassen dalag, als die Sonne gerade hinter einer Sommerwolkenlandschaft und heraufziehendem Dunst verschwand.
Als wir aus den Kutschen ausstiegen, atmeten alle – vom Marquis bis hin zum Lakaien, dessen Namen ich nicht kannte –
tief die frische Landluft ein und verdrängten dadurch die von Krankheit verseuchte Luft aus unseren Lungen. Wir hegten alle die unausgesprochene Hoffnung, dass wir nicht zu lange damit gewartet hatten, die Stadt zu verlassen, wo das Schweißfieber wütete und schon viele Menschenleben gefordert hatte.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich mich schon viel früher mit meiner Familie aufs Land
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