Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Neuromancer-Trilogie

Titel: Neuromancer-Trilogie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Gibson
Vom Netzwerk:
weinte; sein Schluchzen klang fern und fremdartig wie der Schrei der suchenden Möwe. Heißer Urin durchtränkte seine Jeans, tropfte in den Sand und kühlte rasch ab im Wind, der vom Wasser her wehte. Als seine Tränen versiegt waren, tat ihm der Hals weh.

    »Wintermute«, flüsterte er in seine Knie, »Wintermute …«
    Allmählich wurde es dunkel, und als er ein weiteres Mal erschauerte, diesmal vor Kälte, musste er schließlich aufstehen.
    Seine Knie und Ellbogen schmerzten. Ihm lief die Nase; er wischte sie sich am Jackenärmel ab und durchsuchte dann nacheinander seine leeren Taschen. »O Gott«, sagte er, zog die Schultern ein und wärmte sich die Finger in den Achselhöhlen. »O Gott!« Er begann mit den Zähnen zu klappern.
    Die Flut hatte raffinierte Muster in den Strand gezogen, wie sie kein Gärtner in Tokio zustandegebracht hätte. Als er ein paar Schritte zur nunmehr unsichtbaren Stadt getan hatte, wandte er sich um und blickte zurück, in die hereinbrechende Dunkelheit. Seine Fußabdrücke reichten bis zu der Stelle, wo er angekommen war. Keine anderen Spuren verunzierten den stumpfen Sand.
    Er schätzte, dass er mindestens einen Kilometer zurückgelegt hatte, als er das Licht bemerkte. Er unterhielt sich gerade mit Ratz, und Ratz zeigte als Erster darauf – es war ein orangeroter Schimmer landeinwärts zu seiner Rechten. Er wusste, dass Ratz nicht da war, dass der Barkeeper eine Ausgeburt seiner Phantasie war und nicht zu der Szenerie gehörte, in der er gefangen war, aber das spielte keine Rolle. Er hatte den Mann hergerufen, um irgendwie Trost zu finden, aber Ratz hatte seine eigene Meinung zu Case und seiner misslichen Lage.
    »Wirklich, mein Künstlerfreund, du erstaunst mich. Wie weit du gehst, um deine Selbstvernichtung zu bewerkstelligen. Welches Übermaß an Aufwand du treibst! In Night City hast du doch alles schon zur Hand gehabt – das Speed, das dir den Verstand zerfraß, die Drinks, damit alles im Fluss blieb, Linda für die süßeren Leiden und die Straße, auf der schon dein Abgang
wartete. Was für eine weite Reise du unternommen hast, um es jetzt zu tun, und was für bizarre Kulissen … Im Weltraum hängende Spielwiesen, hermetisch verriegelte Schlösser, das dekadenteste Pack aus dem alten Europa, Tote in kleinen Kisten, Zauberei aus China …« Ratz lachte, als er neben ihm herstapfte und munter seinen pinkfarbenen Greifer schwang. Trotz der Finsternis konnte Case das barocke Stahlgeflecht sehen, das die dunkel verfärbten Zähnen des Barkeepers zusammenhielt. »Aber so ist das wohl mit euch Künstlern, was? Du hast diese für dich geschaffene Welt gebraucht, diesen Strand, diesen Ort – zum Sterben.«
    Case blieb stehen, schwankte und wandte sich der rauschenden Brandung und dem heranstiebenden Flugsand zu. »Tja«, sagte er. »Scheiße. Wird wohl so sein …« Er ging auf das Rauschen zu.
    »He, Künstler«, hörte er Ratz rufen. »Das Licht. Du hast doch ein Licht gesehn. Hier. Hier entlang …«
    Er blieb wieder stehen, taumelte und fiel auf die Knie, in ein paar Millimeter eiskaltes Seewasser. »Ratz? Licht? Ratz …«
    Aber nun war es völlig finster geworden, und nur das Rauschen der Brandung war zu hören. Er rappelte sich auf und versuchte, den gleichen Weg zurückzugehen.
    Zeit verstrich. Er ging weiter.
    Und dann plötzlich ein Lichtschimmer, der sich mit jedem Schritt deutlicher abzeichnete. Ein Rechteck. Eine Tür.
    »Feuer da drin«, sagte er, aber der Wind trug seine Worte davon.
    Es war ein Bunker aus Stein oder Beton, unter dunklen Sandverwehungen begraben. Der Eingang war niedrig, schmal, türlos und tief, in eine meterdicke Mauer eingelassen. »He«, sagte Case leise. »He …« Seine Finger strichen über die kalte Wand. Im Innern brannte tatsächlich ein Feuer, Schatten tanzten über die Seiten des Eingangs.

    Er bückte sich tief und war mit drei Schritten durch und drin.
    Ein Mädchen kauerte neben rostigem Eisen, einer Art Kaminofen, in dem Treibholz brannte. Der Wind zog den Rauch durch einen zerbeulten Schornstein ab. Das Feuer war das einzige Licht, und als er in die großen, verschreckten Augen sah, erkannte er ihr Stirnband wieder, einen aufgerollten Schal mit einem Muster wie vergrößerte Schaltkreise.
     
    Er lehnte ihre Umarmung ab in jener Nacht, lehnte das Essen ab, das sie ihm anbot, und auch den Platz neben ihr in dem Nest aus Decken und Schaumstoffstücken. Schließlich hockte er sich neben die Tür und betrachtete sie beim Schlafen,

Weitere Kostenlose Bücher