Neuromancer-Trilogie
noch, dass ich mich gewundert hab, wie du …«
»Da waren überhaupt keine Bilder drauf«, fiel er ihr ins Wort.
»Und ob. Mir war bloß schleierhaft, woher du die ganzen Fotos von damals hattest, als ich noch klein war, Case. Wie mein Daddy ausgesehn hat, bevor er verschwunden ist. Er hat mir mal so’ne Ente aus bemaltem Holz geschenkt, und sogar von der hattest du’n Bild …«
»Hat Tony das gesehn?«
»Weiß ich nicht mehr. Als Nächstes war ich in aller Herrgottsfrühe am Strand, bei Sonnenaufgang, und die Vögel haben alle so einsam gekreischt. Ich hatte echt Schiss, weil ich nicht mal’nen Druck dabei hatte, nichts, und ich hab gewusst, ich würd auf Turkey kommen … Ich bin ununterbrochen gelaufen, bis es dunkel geworden ist, dann hab ich das hier entdeckt. Tags drauf ist das Essen angespült worden, eingewickelt in dieses grüne, gelatineartige Zeugs aus dem Meer.« Sie schob den Stock in die Glut und ließ ihn dort stecken. »Ich bin nicht auf Turkey gekommen«, sagte sie, als das Holz zaghaft aufglühte. »Die Zigaretten sind mir mehr abgegangen. Wie steht’s mit dir, Case? Bist du noch drauf?« Der Feuerschein tanzte über ihre Wangen, ein Abglanz der Lichter von Wizard’s Castle und von Tank War Europa.
»Nein«, sagte er, und dann spielte es keine Rolle mehr, was er wusste. Er schmeckte das Salz an ihrem Mund, wo die Tränen getrocknet waren. Sie hatte eine Kraft in sich, die er aus Night City kannte, an die er sich geklammert und die ihn gehalten hatte, eine Kraft, die ihn eine Weile ferngehalten hatte von Zeit und Tod, von der gnadenlosen Straße, die auf sie alle Jagd machte. Er kannte diesen Ort von früher; nicht jede konnte ihn dorthin bringen, und irgendwie schaffte er es immer wieder, ihn zu vergessen. Es war etwas, was er so oft verloren und wiedergefunden hatte. Es gehörte, wie er wusste, wie er sich erinnerte, als sie ihn zu sich herabzog, zum Fleisch, zum Fleisch, das die Cowboys verhöhnten. Es war etwas Großes, etwas Ungreifbares, ein Meer von Informationen, codiert in Spiralen und Pheromonen, etwas unendlich Kompliziertes, das nur der Körper in seiner starken, blinden Art jemals entziffern konnte.
Der Reißverschluss ging schwer und klemmte, als er den französischen Overall öffnete, weil die Haken der Nylonzähnchen mit Salz verklumpt waren. Er zerriss ihn, und ein winziges Metallteilchen flog gegen die Wand, als der vom Salz zerfressene Stoff nachgab, und dann war er in ihr und besorgte die Übertragung der alten Botschaft. Hier, selbst hier, an einem Ort, den er als das erkannte, was er war, nämlich ein verschlüsseltes Modell aus dem Gedächtnis eines Fremden, wirkte der Trieb.
Sie drückte sich zitternd an ihn, als das Scheit aufloderte und züngelnde Flammen ihre vereinten Schatten an die Bunkerwand warfen.
Später, als er, die Hand zwischen ihren Schenkeln, bei ihr lag, erinnerte er sich, wie sie am Strand gestanden und der weiße Schaum ihre Knöchel umspielt hatte, und ihm fiel wieder ein, was sie gesagt hatte.
»Er hat dir gesagt, dass ich komme«, flüsterte er. Aber sie schmiegte sich nur an ihn, drückte den Hintern gegen seine
Schenkel, legte ihre Hand auf die seine und murmelte etwas im Traum.
21
Die Musik weckte ihn. Anfangs klang sie wie sein eigener Herzschlag. Er setzte sich neben ihr auf und zog sich in der morgendlichen Kühle die Jacke über die Schultern. Am Eingang graues Dämmerlicht. Das Feuer war längst aus.
Vor seinen Augen wimmelte es von gespenstischen Hieroglyphen, transparente Strichsymbole formten sich vor dem neutralen Hintergrund der Bunkerwand. Er betrachtete seine Handrücken und sah schwache Neonmoleküle, die sich unter der Haut einem unerkennbaren Code gemäß verschoben. Er hob die rechte Hand und bewegte sie prüfend. Sie ließ eine schwache, verblassende Leuchtspur flimmernder Nachbilder zurück.
Die Haare an den Armen und im Nacken stellten sich auf. Er hockte mit gebleckten Zähnen da und horchte auf die Musik. Der Rhythmus wurde schwächer, stärker, wieder schwächer …
»Was hast du?« Sie setzte sich auf, strich sich die Haare aus den Augen. »Baby …«
»Ich fühl mich … wie auf’nem Trip … Hörste das auch?«
Sie schüttelte den Kopf, griff nach ihm, legte ihm die Hände an die Oberarme.
»Linda, wer hat’s dir gesagt? Wer hat gesagt, dass ich komme? Wer?«
»Am Strand«, sagte sie, und etwas zwang sie, den Blick abzuwenden. »Ein Junge. Den seh ich öfters am Strand. Um die dreizehn. Lebt
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