Neuromancer-Trilogie
Bescheidenheit von ihm aus, eine schlichte Offenheit.
»Für sie endet es ebenfalls hier«, sagte Riviera.
»Vielleicht findet 3Jane das nicht so gut, Peter«, sagte Case aus einer unbestimmten Regung heraus. Die Derms wüteten nach wie vor in seinem System, und das alte Fieber griff wieder nach ihm – der Wahnsinn von Night City. Er erinnerte sich an begnadete Momente bei seinen Geschäften am Rande des Abgrunds, in denen er festgestellt hatte, dass er zuweilen schneller sprechen als denken konnte.
Die grauen Augen wurden schmal. »Wieso nicht, Case? Wie kommst du darauf?«
Case lächelte. Riviera wusste nichts von dem Simstim-Gerät. In seiner Hast, an die Drogen zu kommen, die sie ihm mitgebracht hatte, war ihm das entgangen. Aber wie hatte Hideo es übersehen können? Denn Case war überzeugt, der Ninja hätte niemals zugelassen, dass 3Jane Molly pflegte, ohne sie vorher auf technische Kinkerlitzchen und versteckte Waffen zu überprüfen. Nein, folgerte er, der Ninja wusste Bescheid. Also war wohl auch 3Jane im Bilde.
»Raus mit der Sprache, Case!«, sagte Riviera und hob die Pfefferstreuermündung der Flechette.
Hinter ihm knarrte etwas, knarrte erneut. 3Jane schob Molly in einem schmuckvollen viktorianischen Rollstuhl, dessen hohe Speichenräder bei jeder Drehung ächzten, aus dem Dunkel hervor. Molly war fest in eine schwarzrot gestreifte Decke gepackt. Die schmale Korblehne des altertümlichen Stuhls überragte ihren Kopf. Sie wirkte sehr klein. Gebrochen. Ein strahlend weißer Pflasterstreifen bedeckte ihre beschädigte Linse; die andere blinkte leer, als ihr Kopf bei den Bewegungen des Rollstuhls auf und ab wippte.
»Ein vertrautes Gesicht«, sagte 3Jane. »Ich hab dich am Abend von Peters Show gesehen. Und wer ist das?«
»Maelcum«, sagte Case.
»Hideo, entferne den Pfeil und verbinde Mr. Maelcums Wunde!«
Case starrte Molly an. Sein Blick klebte an ihrem blassen Gesicht.
Der Ninja ging zu Maelcum hinüber, hielt kurz inne, um Bogen und Schrotflinte außerhalb seiner Reichweite abzulegen, und zog etwas aus seiner Tasche. Einen Bolzenschneider. »Ich muss den Schaft abzwicken«, sagte er. »Sitzt zu dicht an der Arterie.« Maelcum nickte. Sein Gesicht war aschgrau und mit Schweiß bedeckt.
Case sah 3Jane an. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit«, sagte er.
»Für wen?«
»Für uns alle.« Es knackste, als Hideo den metallenen Pfeilschaft durchtrennte. Maelcum stöhnte.
»Also wirklich«, sagte Riviera, »es dürfte dich wohl kaum amüsieren, wie dieser gescheiterte Schwindler einen letzten verzweifelten Versuch startet. Es wäre sogar höchst widerwärtig, das kann ich dir versichern. Zuletzt wird er auf Knien vor dir kriechen, dir seine Mutter verkaufen wollen und dir die langweiligsten sexuellen Dienste anbieten …«
3Jane warf den Kopf zurück und lachte. »Tatsächlich, Peter?« »Die Gespenster werden sich heut Nacht’nen harten Kampf liefern, Lady«, sagte Case. »Wintermute geht auf den andern los, auf Neuromancer. Es ist ihm ernst. Wissen Sie das?«
3Jane zog die Brauen hoch. »Peter hat so was angedeutet, aber ich würde gern mehr hören.«
»Ich hab Neuromancer getroffen. Er hat von Ihrer Mutter gesprochen. Ich schätze, er ist so was wie’ne riesige ROM-Konstruktion zur Persönlichkeitsspeicherung, nur dass er den vollen Zugriff auf seine Daten hat. Die Konstruktionen glauben, sie wären wirklich vorhanden, als ob es ein realer Ort wäre, aber er erstreckt sich ins Unendliche.«
3Jane trat hinter dem Rollstuhl hervor. »Wo? Beschreib mir den Ort und diese Konstruktion.«
»Ein Strand. Grauer Sand, wie Silber, das mal geputzt werden müsste. Und ein Betonklotz, so’ne Art Bunker …« Er zögerte. »Nichts Besonderes. Nur’n alter, verfallener Kasten. Wenn man weit genug geht, kommt man wieder dort an, wo man losgegangen ist.«
»Ja«, sagte sie. »Marokko. Als Marie-France noch jung war, Jahre vor der Heirat mit Ashpool, hat sie einen Sommer allein an diesem Strand verbracht und in einem verlassenen Blockhaus gewohnt. Dort hat sie die Grundlagen ihrer Philosophie formuliert.«
Hideo richtete sich auf und verstaute die Zange in seiner Arbeitshose. In jeder Hand hielt er ein Pfeilstück. Maelcum hatte die Augen geschlossen und umklammerte mit der Hand seinen Bizeps. »Ich verbinde die Wunde«, sagte Hideo.
Case hatte sich zu Boden geworfen, bevor Riviera die Flechette hochreißen und abdrücken konnte. Die winzigen Pfeile schwirrten wie Überschallmücken an seinem Hals
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